Titel: Ein neuer Tag wie jeder andere

Autor: Vilyana
Kategorie: Dramatisches, Nachdenkliches
Rating: ab 6
Anmerkungen: Danke an Drachenfee fürs Betalesen!
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Disclaimer: Gehört alles Tolkien.

Inhalt: Ein Tag in Eowyns Jugend - ein Tag wie jeder andere in ihrem Leben, voller Aussichtslosigkeit.

Ein neuer Tag wie jeder andere

Es weht ein kalter Wind. Ich friere, obwohl ich die Kälte nicht richtig wahrnehme. Ich starre nur geradeaus, nach vorn, auf den Grabhügel meiner Mutter... Ich stehe neben Eomer, meinem Bruder, halte seine Hand... Menschen um mich herum, sie sprechen mich an, ich beachte sie nicht, ich stehe da wie in Trance... Das Gesicht meiner Mutter... Ich sehe sie vor mir, sehe den Kummer in ihren Augen, die Verzweiflung... Sie redet mit mir, doch ich verstehe nicht, was sie sagt...

Erschrocken fahre ich zusammen. Es ist alles in Ordnung. Ich liege in meinem Bett. Es war nur wieder dieser Traum, der mich seit dem Tod meiner Mutter verfolgt. Das alles ist jetzt schon sechs Jahre her und doch sehe ich sie in meinen Träumen immer wieder vor mir, sehe, wie verzweifelt sie war, wie der Kummer sie verzehrte...

Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Die Sonne geht auf, ein neuer Tag beginnt, ein Tag wie jeder andere, der mir den gleichen Kummer bringen wird... Es ist noch nicht ganz hell, doch schlafen kann ich jetzt nicht mehr. Ich ziehe mich an und gehe nach draußen.

Ich trete hinaus in die Morgendämmerung. In der Ferne glitzern die schneebedeckten Gipfel der Berge. Im Morgenlicht sieht Edoras aus wie eine große und schöne Stadt, so, wie es früher gewesen sein muss, in der Zeit, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, als alle glücklich waren, als meine Mutter noch lebte... Damals muss alles in Ordnung gewesen sein...

Doch was ist Rohan heute im Vergleich dazu? Mir fallen die alten Geschichten über meine Heimat ein, welche ich so oft gehört habe, als Rohan stark war, als wir Gondor in Kriegen zu Hilfe kamen, bevor die Orks in unser Land einfielen, bevor der Schatten kam. Mein Vater ist schwach geworden, ist vor seiner Zeit gealtert... Nein, nicht mein Vater. Théoden ist nicht mein Vater, mein richtiger Vater ist in der Schlacht gefallen, das weiß ich. Und doch... Théoden war immer wie ein Vater zu mir. Aber Eomund... An ihn kann ich mich nicht erinnern. Nach ihm verzehrte sich meine Mutter in Kummer. Ihr Tod, der mich in meinen Träumen verfolgt...

Nein, daran will ich jetzt nicht denken! Ich fasse mich wieder und gehe weiter. Die Straßen von Edoras sind verlassen, niemand außer mir ist draußen. Windfola wiehert, als ich den Stall betrete und für kurze Zeit vergesse ich meinen Kummer.
"Na mein Liebling, gut geschlafen? Komm, wir reiten aus, die anderen sind noch nicht wach." Kurze Zeit später galoppiere ich über die weiten Ebenen von Rohan. Für einen Augenblick bin ich frei, vergesse meine Sorgen, denke nicht daran, was mich eben noch bedrückte. Für einen Augenblick...
Als ich Windfola zurück in den Stall bringe, ist es bereits hell.
"Mach's gut, bis nachher."
Ich gehe zurück und mit jedem Schritt, den ich gehe, entferne ich mich von meiner Freiheit, gehe zurück in einen Käfig, zu meinen Fesseln, zurück zu meinen Sorgen, in einen Schatten, die Erinnerung an eben, an die wenigen glücklichen Momente in meinem Leben verblasst immer mehr...

Ich gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mich um. Zeit zum Essen. Ich betrete die Halle und setze mich auf meinen Platz neben Eomer. Er bemerkt meinen Kummer.
"Eowyn, ist alles in Ordnung?"
"Ja, natürlich, was soll schon sein? Es ist alles so wie immer."
Ja. So wie immer. Die üblichen Sorgen, die mich schon seit Jahren immer wieder bedrücken. Doch Eomer ist beruhigt und fragt nicht weiter. Noch lässt er sich leicht täuschen.

Ich esse etwas, auch wenn ich eigentlich gar keinen Hunger habe. Grima sitzt mir schräg gegenüber und starrt mich die ganze Zeit an. Glaubt wohl, ich würde es nicht merken. Aber das tue ich! Ich spüre seine kalten Blicke auf mir, merke, wie sie mich durchdringen. Ein Schatten, Dunkelheit, Verzweiflung... Ich hasse ihn! Ich werde nie verstehen können, warum mein Vater ihn als Berater eingestellt hat. Ja. Mein Vater. Mein Vater...

Théoden. Ich sehe ihn an, er sieht so alt aus, so schwach, älter als er in Wirklichkeit ist. Er war ein großer Krieger. Früher...

Es ist Mittag. Die Sonne steht hoch am Himmel. Mein Traum bereitet mir immer noch Sorgen. Ich gehe zum Grabhügel meiner Mutter und lasse mich ins weiche Gras fallen. Simbelmyne. Der ganze Hügel ist voll davon. Wie Sterne in der Nacht, und doch können sie den Schatten nicht vertreiben, können die Dunkelheit nicht durchdringen, können mich nicht von meinen Sorgen erlösen...

Ich überlege, wann ich zum letzten Mal hier gewesen bin. Es war vor etwa einem Monat. Aus demselben Grund. Wegen desselben Traums, den ich immer wieder habe, der mich nicht loslässt...

Meine Mutter. Warum hat sie mich verlassen? Warum? Warum kann sie jetzt nicht hier sein? Hier, bei mir? Warum kann ich sie in meinen Träumen nie glücklich sehen? Warum sehe ich sie immer in dieser Verzweiflung? War sie denn nie glücklich? Doch, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Und wenn ich mich nicht daran erinnern kann, woher soll ich dann wissen, dass sie jemals glücklich war...? Aber doch, damals, als sie meinen Vater, nein, als sie Eomund kennen lernte, als sie geheiratet haben, damals muss sie glücklich gewesen sein. Ja, oder...?

Aber als Eomund fiel... Wieso musste er sterben? Wenn er jetzt noch leben würde... Wir könnten eine glückliche Familie sein. Wieso konnte er nicht vorsichtiger sein, als er gegen die Orks kämpfte?! Er brachte meiner Mutter den Tod, nur weil er nicht besser auf sich geachtet hat, sie hat sich im Kummer verzehrt...

Die Orks... Wieso durchstreifen sie Rohan?! Das ist unser Land! Sie haben hier nichts zu suchen! Sie bringen nur Tod, Zerstörung, Verzweiflung... Wenn sie damals nicht gewesen wären, wäre mein Vater... dann wäre er für mich wie ein Vater... dann würde er noch leben... dann würde meine Mutter noch leben...

Meine Mutter starb, weil sie nicht mit dem Tod Eomunds leben konnte... wegen eines Mannes... Sie ist eine edle Frau gewesen... sagen die anderen, in meiner Erinnerung ist sie immer wie in diesem Traum... Wie oft habe ich schon gehört, dass ich ihr ähnlich sehe, dass ich so bin wie sie? Und doch...

Ich will nicht so sterben wie sie. Mein Wunsch, den ich schon so lange habe... Eine Kriegerin zu sein, zu kämpfen, für Rohan, für mein Volk, damit alles wieder so wird wie früher, bevor dieser Schatten kam... Ich will große Taten vollbringen, eine ruhmreiche Kriegerin werden, nicht zu Hause bleiben und darauf warten, dass die Männer zurückkehren... Nein! Ich will nicht in einem Käfig gefangen sein, ich will frei sein. Ich fürchte keinen Schmerz, fürchte nicht den Tod, aber ich will diesem Käfig entkommen, frei von diesen Fesseln sein, nicht mehr in dieser Hilflosigkeit verharren müssen... Ich will mich endlich rächen, rächen an den Orks, dafür, dass sie mir all das angetan haben, dass ich meine Eltern verloren habe, dass Rohan so schwach ist, dass Théoden... dass mein Vater immer schwächer wird.... Ich will den Schatten vertreiben, der auf unserem Land liegt, damit Edoras wieder schön wird... damit Rohan wieder wie in alten Zeiten erstrahlt... Wie damals, bevor der Schatten kam...

Es ist bereits Abend, als ich mich endlich aufraffe und gehe. Denn was bringt es schon, wenn ich dasitze und mir immer wieder dieselben traurigen Gedanken mache?! Also fasse ich mich wieder und kehre nach Hause zurück. Ich darf meine Tage nicht mit solchen Gedanken vertun, wenn ich etwas bewegen will, ich muss handeln, muss kämpfen. Ich gehe in mein Zimmer, zu der Truhe hinten in der Ecke. Da ist es. Mein Schwert. Ich habe es aus der Waffenkammer entwendet, schon vor zwei Jahren, aber niemand hat bemerkt, dass es fehlt. Ich ziehe mich um und betrachte mich im Spiegel. Ich bin nicht mehr das brave, junge Mädchen, das ich eben noch war, nein, ich bin jetzt eine Kriegerin! Ich nehme mein Schwert, kämpfe gegen Orks, gegen unsichtbare Orks...

Ich übe mich schon lange im Schwertkampf, ohne dass es je jemand bemerkt hat. Ich denke an meine Zukunftspläne. Ich bin eine Kriegerin. Ich will Rohan wieder ins Licht führen. Rohan soll wieder so werden können, wie es früher war... Ich will mein Land von dem Schatten befreien, will, dass die Menschen wieder glücklich sind. Hoffnung für unser Land. Hoffnung, dass bessere Tage kommen mögen...

Ende

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