Titel: Grab der Erinnerung

Autor: Vilyana
Kategorie: Dramatisches, Nachdenkliches
Rating: ab 12
Anmerkungen: Danke an Drachenfee fürs Betalesen!
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Disclaimer: Gehört alles Tolkien.

Inhalt: Èowyns Gedanken über falschen Entscheidungen und die einzige wahre Liebe ihres Lebens...

Grab der Erinnerung

Die Blumen blühen um mich herum, strahlen mich an, aber ich kann ihr Lächeln nicht erwidern. Zu tief sitzt die Trauer, denn wieder kommt die Erinnerung in mir hoch. Wie lange noch?

Hier habe ich für ein paar wenige Augenblicke meine Ruhe, die ich doch so dringend brauche. Zeit, um meinen Gedanken nachzuhängen über längst vergangene Zeiten, die glücklichsten Wochen meines Lebens und den größten Fehler, den ich je begangen habe.

Warum musste ich damals Faramir heiraten? So oft habe ich schon darüber nachgedacht, aber nie eine Antwort gefunden. Ich bin inzwischen sicher, dass ich nie eine finden werde, mit der ich mich abfinden kann.

Ich liebte Aragorn, denn er war es, der Licht in mein dunkles Leben brachte. Ich glaubte, er könne mir helfen, Rohan wieder ins Licht zu führen. Ich würde ihn heiraten und gemeinsam könnten wir ein glückliches Leben führen.
Aber dem war nicht so. Sein Herz gehörte einer anderen, unerreichbar fern war er für mich, ein Funken Hoffnung im düsteren Raum des Lebens, an den ich mich zu klammern suchte. Doch ich wurde enttäuscht. Ich wurde zurückgewiesen. Er brachte keine Hoffnung. Er brachte mir bloß Schmerz. Heute bin ich klüger geworden. Männer können mein Leben nicht erhellen, mein Land nicht retten, meinem Herzen keine Ruhe bringen. Nur Kummer brachte mir ihre Liebe, sowie ihre Abweisung.

In meiner Jugend hatte ich große Träume. Ich wollte mein Land wieder ins Licht führen, Rohan sollte wieder glücklichere Tage sehen können. Ich wollte eine Kriegerin sein. Ich wollte nicht denselben Fehler begehen wie meine Mutter und mich an einen Mann binden, ihn fallen sehen und mich im Kummer verzehren. Nein, ich wollte stark sein. Immer war ich mir dieser Gedanken bewusst, bloß nicht in dem Moment, in welchem ich Aragorn erblickte und darauf bei Faramir Trost suchte. Trost fand ich nicht. Nur weiteren Kummer. Die Liebe, die mein Herz später noch ein einziges Mal entflammen sollte, fand ich nicht bei ihm. Und nun bin ich wieder alleine, trauere den Erinnerungen nach und frage mich, weshalb ich überhaupt hier bin.

Ich stehe auf und schreite die Straße entlang. Ich weiß, wo ich hin will, so oft habe ich diesen Weg in letzter Zeit genommen. Zu oft musste ich ihn nehmen.
Nur wenige Menschen sind auf den Straßen unterwegs in der kühlen Winterdämmerung, sie werfen mir hin und wieder Blicke zu, doch beachten sie mich nicht wirklich, zu sehr sind sie in ihre eigenen Gedanken vertieft.

Die ganze Stadt strahlt eine seltsame Kühle aus. Minas Tirith ist so anders als Rohan. Keine weiten, grünen Wiesen, keine kleinen, einfachen Häuser mit Ställen, bloß kalte Steinwände, die mich einsperren und gefangen halten in ihrem düsteren Grab der Stille und Trauer.

Die Sonne scheint nicht mehr hell, nur schwach schimmert ihr Licht auf meinen weißen Gewändern und meinem blassen Gesicht, als ich den Weg zu den Gräbern entlang schreite. Der Ort wirkt so leblos und verlassen, als sei er selbst tot und vergessen, nicht einmal der Wind weht durch meine offenen Haare.

Ich liebte Aragorn damals, ja, doch war es nicht mehr als die bloße Blindheit des Verliebtseins. Er war nicht mehr als jeder andere Mann. So viele Hoffnungen hatte ich auf ihn gesetzt. Er gewann den Krieg und wurde König, aber dennoch hat er mich enttäuscht. Er war nicht mehr als jeder sterbliche Mann, für den ich die Rolle einer normalen Frau haben sollte, die nicht mehr konnte als für den Mann sorgen und zuhause auf ihn warten. Er liebte keine Kriegerin. Dies war ich, wahrlich keine schlechte, mehrere Schlachten habe ich noch nach meiner Hochzeit geschlagen, war selbst dann nicht gewillt, meine Jugendträume vergehen zu lassen. Ich weiß nicht, ob Faramir es wusste. Getarnt ritt ich in die Schlacht, wie beim ersten Mal. Nie sprach er mich an. Ob er mich wirklich nicht erkannte oder wusste, dass er gegen meinen Willen machtlos war und keine Demütigung hinnehmen wollte? War Faramir wirklich so leichtgläubig, dass er wahrhaft annahm, ich hätte mich geändert? Oder wollte er nur nicht riskieren, mich zu verlieren?

Von Aragorn konnte ich mich lösen, ich lernte, bloß an mich selbst zu glauben, denn alle, auf die ich gehofft hatte, würden mich im Stich lassen. Mit meinem Bruder konnte ich zwar über fast alles reden, aber in diesem einen Punkt verstand er mich nicht.

In den Häusern der Heilung wurde ich geheilt nach meinem Kampf mit dem Hexenkönig. Nicht nur körperlich war ich gesund, auch mein Herz hatte gelernt, Aragorn aufzugeben und eigene Wege zu gehen. Aber gleichzeitig war es auch jener Ort, der mich später tiefer verwunden sollte als alles zuvor, und jene Wunde heilte bis heute nicht, sie wird über meinen Tod hinaus reichen.

In meiner Einsamkeit wandte ich mich Faramir zu, sah in ihm die Hoffnung, die ich in Aragorn verloren hatte. Alles, was ich fand, war Liebe für den Augenblick, gefolgt von Unzufriedenheit, die ich zu spät erkannte. Ich heiratete ihn, und für kurze Zeit war ich glücklich, jedoch währte dies nicht lange. Meine zweite Liebe verflog im Wind wie meine erste, ich war wieder unglücklich, ja noch unzufriedener als zuvor, denn nun war ich an einen Mann gebunden. Ich hätte eine Trennung verkraftet, mühelos hätte ich in die Zukunft blicken können und ganz im Kriegertum aufgehen können, aber ich wusste, Faramir war zu schwach. Alle hielten ihn für einen starken, tapferen Krieger, doch außerhalb der Schlachten war er verletzlich und schwach, er wäre nicht damit zurechtgekommen, hätte ich ihn verlassen, er hätte sich im Kummer verzehrt wie meine Mutter damals nach meinem Vater. So gab ich mich glücklich, und er vermochte es nicht, die Maske eines vorgetäuschten Lächelns zu durchschauen. Heimlich ritt ich in die Schlacht, sagte nicht, wohin ich ging, tat bei meiner Rückkehr, als wäre nichts geschehen. Er fragte nie nach. Falls er die Wahrheit kannte, so fürchtete er sich vor ihr.

Es kehrte wieder Frieden ein, und nur kurze Zeit später kam mein Sohn zur Welt. Faramir schien glücklicher als jemals zuvor, vielleicht glaubte er sogar, dass ich in meiner Mutterrolle meine kriegerischen Absichten vergessen würde. Er lag falsch. Wenn er dies wirklich dachte, so war es wohl der größte Irrtum seines Lebens.

Ich erklärte, Heilerin werden zu wollen, und verbrachte den Großteil meiner Zeit in Minas Tirith. Ich suchte einen Zeitvertreib, doch hätte ich nie gedacht, welche Folgen diese Entscheidung mit sich bringen würde.

Mein Ziel habe ich erreicht und so lasse ich mich auf dem Boden nieder. Eine einsame Träne läuft meine Wange hinab, aber auch heute wird es sicher nicht die einzige bleiben, zu nah ist die Erinnerung.

Auch du warst eine Heilerin. Du warst ein Jahr jünger als ich, aber du hattest schon Erfahrung und halfst mir viel in der ersten Zeit. Du warst eine Freundin, die beste, die ich je hatte. Nein, mehr als das. Du warst die einzige Person in meinem Leben, die ich wirklich geliebt habe, nicht bloß ein Traum in der Dunkelheit, der vergeht, sobald die Sonne wieder scheint.

Niemandem habe ich erzählt, was du mir wirklich bedeutet hast, nicht einmal Éomer. Er hielt dich für eine gute Freundin und hilfsbereite Gefährtin. Aber du warst mehr als das.

Fast fünf Jahre lebte ich in den Häusern der Heilung, und es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Faramir sah ich nicht oft, aber er hatte seinen Sohn, mit dem er die meiste Zeit verbrachte, er war nicht ständig auf mich angewiesen. Er freute sich über meine gute Laune und war glücklich, weil es mir gut ging, glaubte er doch, es läge allein an meinem Leben in Minas Tirith und meiner Arbeit in den Häusern der Heilung. Was für ein Narr. Wenn er gewusst hätte, warum ich glücklich war... Wenn er gewusst hätte, dass du es warst, die mir gab, was ich suchte, was ich brauchte, und mich seine Zuneigung unberührt ließ...

Ich traf dich oft nach der Arbeit in unseren Gemächern. Du warst für mich der ganze Glanz Minas Tiriths, und nun ist er vergangen, und Minas Tirith nicht mehr als die kalte dunkle Stadt, die sie auch in der Zeit davor für mich gewesen war.
Du hast mir gezeigt, was Liebe bedeutet. Du hast mich so akzeptiert, wie ich war, hast die entschlossene Kriegerin in mir gesehen und nicht versucht, mich von irgendetwas abzuhalten. Dafür liebe ich dich, und weil du die einzige Person in meinem Leben warst, die mich immer verstanden hat, und die mir die Kraft gegeben hat, an meinen Träumen festzuhalten. Mir fehlen die Worte, um wirklich auszudrücken, was du mir bedeutet hast.
Ich liebe dich.
Noch immer.

Mehr als vier Jahre waren wir zusammen, als ich wieder ein Kind erwartete. Mit gemischten Gefühlen sah ich der Geburt entgegen, schon die letzte war nicht einfach verlaufen, aber du sprachst mir Mut zu, freutest dich mit mir. Du sagtest, du würdest mir beistehen in allem, was kommen mochte. Ich glaubte dir, und war sicher, dass mein Vertrauen diesmal nicht enttäuscht werden würde. Du hast mich nicht enttäuscht, meine Liebste. Doch der schlimmste Schicksalsschlag meines Lebens sollte mir noch bevorstehen...

Es waren wieder Kämpfe an den Grenzen ausgebrochen, die Unstimmigkeiten waren schnell wieder bereinigt, doch die Folgen ließen sich nicht rückgängig machen. Als eine der Heilerinnen gingst du mit dem Heer. Ihr habt abseits gewartet, der Ort wurde für sicher gehalten, aber er war es nicht, ihr wurdet aus dem Hinterhalt überfallen, ein vergifteter Pfeil traf dich in den Rücken.
So verlor ich dich für immer.

Mein Gefühl gab mir Gewissheit über deinen Tod, mochte ich es erst auch nicht glauben, noch bevor sie die Meldung brachten, du wärest gefallen. Tiefer Kummer befiel mich, nie wieder konnte ich wirklich glücklich sein, denn meine Gedanken ließen dich nicht los, mein Herz konnte dich nicht vergessen.

Eine Woche später verließ ich Minas Tirith, verweilte kurz in Ithilien und brach schließlich auf nach Rohan, in meine alte Heimat. Selbst dort konnte ich nicht vergessen, doch ich konnte den Schmerz leichter ertragen als in Gondor.
Mein Bruder und Faramir hatten Mitleid, sie sorgten sich um mich. Aber niemand der beiden konnte auch nur ahnen, was ich durch deinen Tod wirklich alles verloren hatte, denn du warst mehr als eine meiner Freundinnen, und dies sollten sie nie verstehen.

Ich bestand darauf, meine Tochter in Rohan aufwachsen zu lassen. Faramir und mein Sohn lebten ebenfalls dort, zogen aber immer wieder für einige Zeit zurück nach Gondor. Ich kam nur selten mit, und mied Minas Tirith lange Zeit; war ich dort, führte mich mein Weg stets zu deinem Grab. Ich vermisse dich, meine Geliebte. Ich vermisse dich heute noch.

Ich blicke auf dein Grab. Es wirkt so kühl, wie die ganze Stadt. Nichts erinnert an dich, an dein wahres Wesen. Nur kalter Stein, kühle Dunkelheit. Du hättest einen Grabhügel verdient in den grünen Wiesen Rohans, wo immer Symbelmyne blühen und an die Toten erinnern, keinen Ort wie diesen.

Du passt nicht hierher, bist so anders als Gondor. Du hattest lange, dunkelbraune Haare, die im schwachen Mondlicht rot schimmerten, schöner als das klare Licht der Sterne am Nachthimmel, und wunderbare grüne Augen, so hell strahlend, wie ich sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe, und deren Funkeln meinen Blick immer wieder einfing. Deine Haut war makellos, stand der der Unsterblichen in nichts nach, und die Berührung deiner zarten Lippen und sanften Hände werde ich nie vergessen. Ich sehne mich danach, nach diesem Gefühl, nach dir, doch ich weiß, dass ich es nie wieder spüren werde. Dein Lachen, wenn du dich gefreut hast, vernehme ich noch heute im Geiste, obwohl alle anderen Töne aus der Erinnerung an diese Zeit verklungen sind, und du hast es als einzige geschafft, mich immer damit anzustecken, egal wie betrübt ich war. Was ich damals empfunden habe, als ich bei dir war, unverändert vom ersten bis zum letzten Tag, mir fehlen die Worte, um es zu beschreiben, und was ich heute noch spüre, wenn ich an dich denke, es ist bloß ein schwacher Abglanz dessen. Du gehörst nicht hierher. Du solltest leben, bei mir sein, mich trösten. Du fehlst mir. Du gehörst nicht in ein Grab aus totem Stein wie tausend andere, wo bloß dein Name an dich erinnert, ein stummes Zeichen für jene, die dich kannten. Aber ich würde dich auch so finden, denn in meinem Herzen lebst du weiter, unsterblich und unvergessen bis zu meinem Tod. Bis meine Zeit vergangen ist und eines Tages im Frühling die Symbelmyne auch auf meinem Grab blühen werden.
Ich vergesse dich nicht.

Die Tränen laufen über mein Gesicht, aber ich beachte sie nicht. Ich stehe auf, mache mich auf den Heimweg. Nein, nicht auf den Heimweg, Minas Tirith, wo ich zur Zeit lebe, ist nicht mehr meine Heimat.
Denn du bist nicht mehr dort.

Stumm verlasse ich die Gräber wieder, gehe zurück zu meiner Familie, wo mich Faramir, den ich nie wirklich lieben konnte, begrüßen wird, wo ich auf Aragorn treffen und wo ich verkünden werde, dass ich noch einmal nach Edoras will.

Ich werde dir einen Strauß Symbelmyne pflücken, die dein leeres Grab bedecken sollen, und wenn die ersten Strahlen der Sonne im Frühling auf die Wiesen Rohans scheinen, werden in ihrem Licht auch die Blumen auf meinem Grabe blühen. Voller Freude, weil wir endlich wieder vereint sind, meine Geliebte.

Ende

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