Titel: Zeit des Abschieds

Autor: Vilyana
Kategorie: Dramatisches, Nachdenkliches
Rating: ab 12
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Disclaimer: Gehört alles Tolkien.

Inhalt: Visionen plagten sie, Visionen von der Zukunft, die Feanor bringen wird - doch ist sie auch in der Lage, die Entscheidung, die sie traf, in die Tat umzusetzen?

Zeit des Abschieds

Ich schleiche mich durch die Gänge zu deinem Zimmer. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich habe mir fest vorgenommen, es zu schaffen!
Einige Zeit ist es schon her, seit du dich so verändert hast. Du wurdest immer unberechenbarer und ich weiß nicht warum. Waren es die Silmaril? Du achtest nur noch auf sie, sie sind dir wichtiger als alles andere, wichtiger als deine Kinder, wichtiger als dein Volk, wichtiger als ich. Warum nur? Es sind doch bloß drei Edelsteine, nicht mehr als das, mag auch das Licht der zwei Bäume in ihnen sein, welches sie zu den schönsten Edelsteinen Valinors macht! Oder waren es die Lügen Melkors, die dich verdorben haben? Oft und lange habe ich mit dir geredet. Ich wollte dich nicht aufgeben, da ich nicht glauben konnte, dass du dich verändert hast. Doch du gingst unbeirrbar weiter deinen Weg. Wie oft habe ich versucht, dich zur Vernunft zu bringen? Anfangs hast du noch auf mich gehört, hast meinen Rat angenommen, doch in letzter Zeit nicht mehr. Du hast dich so verändert, bist so unnahbar geworden. Alle meine Gespräche mit dir waren umsonst. Und nun ist es zu spät, dich noch zu retten.
Längst ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Ich werde dich verlassen müssen. Zwar liebe ich dich noch immer, aber ich liebte dich so, wie du warst und nicht, wie du nun bist. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, ich habe sie hinausgezögert, bis es nicht mehr ging. Morgen wollte ich dich verlassen, wollte dir sagen, dass ich gehe. Ich wollte einfach fortgehen, zurückkehren zu meiner Familie und nicht mehr an dich denken.
Doch nun kann ich es nicht, denn ich weiß, was geschehen wird. Zu viel habe ich gesehen in meinen Träumen in der letzten Zeit, sie lassen mir keine Ruhe. Alles hat sich in meinem Gedächtnis eingeprägt, alles Leid, das Blut, der Krieg, zu fest, um einfach zu vergessen. Und all dieses Unglück geschieht durch deine Schuld! Du wirst an allem Schuld sein, auch wenn du es jetzt noch nicht weißt. Und wenn sie es erkennen, werden sie dich alle verfluchen! Ich habe Angst, dass du mir auch meine Kinder nimmst. Sicher werden sie dir ins Unglück folgen, egal was ich ihnen sage, sie werden nicht auf mich hören. Sie werden mit dir gehen, werden fallen, einer nach dem anderen. Ich werde alleine hier zurückbleiben, alleine und unglücklich bis ans Ende der Welt. Doch nicht nur ich. All die wenigen, die dir nicht folgen, werden in Trauer und Unwissenheit zurückbleiben, und sie werden ihren Hass auf dich nie vergessen, selbst wenn sie jetzt noch deine Taten bewundern. Das wird das Ende unserer glücklichen Zeit hier in Valinor sein! Nichts als Wunden und Verwüstung wird zurückbleiben.

Aber so weit darf es nicht kommen, nie! Soweit kann ich es nicht kommen lassen! Ich kann dich nicht einfach so verlassen und nur darauf warten, dass du mir alles nimmst. Obwohl ich dich noch liebe, ich muss dich töten!

Nervös betrachte ich den Dolch in meiner Hand. Du selbst hast ihn geschmiedet und durch ihn wirst du den Tod finden. Vergib mir, ich muss es tun, nicht für mich, sondern für alle, nicht zuletzt auch für dich, um dich vor deinen wahnsinnigen Plänen zu schützen.
Silbern glitzert die Klinge im schwachen Licht, beunruhigend, aber doch seltsam schön. Noch ist sie rein, doch bald schon wird sie befleckt sein von Blut. Deinem Blut...
Ich wende meinen Blick wieder von ihr ab. Ich stehe vor deinem Zimmer, gehe hinein und trete an dein Bett. Du liegst ruhig da und schläfst, ahnst nicht, dass du schon bald tot sein wirst. Doch wieder fällt mein Blick auf den Dolch in meiner Hand. Noch nie ist Blut vergossen worden in Valinor. Noch nie. Wenn ich dich umbringe, bin ich die erste, die eine solche Tat begeht im Segensreich. Was werden sie über mich sagen? Werden sie mir glauben, wenn ich sage, dass du Selbstmord begangen hast? Dass ich nichts dafür konnte? Das erste Blut in Valinor, der erste Tote... Doch wie kann ich noch ein reines Gewissen haben, wenn ich dich leben lasse, obwohl ich weiß, was du anrichten wirst? Wenn ich zulasse, dass so viele sterben wegen deinem Wahnsinn? Das kann ich ebenso wenig verantworten.

Die Klinge glitzert im fahlen Licht und wieder betrachte ich sie näher. Sie sieht scharf aus... Leicht fahre ich mit dem Finger daran entlang. Sofort spüre ich den stechenden Schmerz, spüre, wie das Blut auf meine Hand läuft. Es fühlt sich so warm an. Ich achte kaum noch auf den Schmerz an meinem Finger. Ein seltsames Kribbeln durchzuckt mich.
Wenn ich ihn töte, muss ich mir Vorwürfe machen, weil ich ihn getötet habe, wenn er lebt, werden viele fallen und ich habe es zugelassen, es ist auch meine Schuld. Ich werde immer etwas falsch gemacht haben, egal was ich tue...
Noch eine Weile starre ich auf die Wunde, sehe, wie Tropfen um Tropfen meinen Arm herunter rinnt. Doch schließlich reiße ich mich los. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben, ich muss es endlich hinter mich bringen, sofort.
Mein Blick gleitet noch einmal durchs Zimmer. Es ist still, niemand ist hier, der mich beobachten könnte. Feanor schläft noch immer, er hat nichts bemerkt. Jetzt muss ich es tun, der Augenblick ist gekommen. Ich muss ihn umbringen, darf nicht daran denken, dass ich ihn immer noch liebe. Ich kann nicht zulassen, dass er so viel Unheil anrichtet! Bloß ein entscheidender Streich und alles ist vorbei. Er wird niemanden ins Verderben führen können. Ich hole aus, dieser eine Stich muss ihn umbringen. Wenn nicht, war alles umsonst. Er wird aufwachen und ich habe keine Möglichkeit mehr. Ich schließe die Augen, ich will nicht sehen was geschieht. Ich will nicht sehen, wie die Klinge seinen Körper durchdringt, wie das Blut aus seinem Leib läuft, wie alles Leben aus ihm weicht und er tot vor mir liegt...
Ich muss ihn umbringen! Jetzt!

Nein, irgendetwas hält mich zurück, ich kann ihn nicht töten. Plötzlich fühle ich mich so schwach, ein seltsames Gefühl überkommt mich. Was geht hier vor sich? Warum lebt er noch? Warum habe ich ihn nicht getötet? Was war es, das meine Hand zurückhielt? Es war keine Liebe, nein, denn ich liebe ihn nicht mehr. Ich fühle mich nur noch leer, schwach... Was geschieht mit mir? Beobachtet mich jemand? Ich sehe mich um, sehe meinen Dolch. Die Klinge glitzert immer noch im schwachen Licht, dunkel heben sich die Flecken von meinem Blut ab... Ich fühle mich bedroht, werfe die Klinge von mir, ich will nur noch weg von hier! Panisch reiße ich die Tür auf, schlage sie hinter mir wieder zu. Einige Meter weiter bleibe ich erschrocken stehen. Ich sehe mich um. Nichts. Dieselbe bedrohliche Stille. Ich höre bloß mein Herz rasen. Warum lebt er noch? Warum habe ich ihn nicht getötet? Was hielt meine Hand in jenem Augenblick zurück? Ich kann an nichts anderes denken, es lässt mir keine Ruhe. Warum habe ich ihn nicht einfach umgebracht? Schicksal? Muss denn wirklich all das geschehen, was ich gesehen habe?
Langsam kommen mir wieder die Erinnerungen an meine Visionen und in Gedanken lasse ich die letzten Minuten noch einmal an mir vorüberziehen... Nun bleibt mir nur noch mein Entschluss, ihn zu verlassen. Morgen werde ich gehen, ich kann hier nicht an seiner Seite verweilen. Doch er wird weiterleben, und alles Unglück wird seinen Lauf nehmen...

Ich merke nur noch, wie ich im Gang erschöpft zusammenbreche.
Ich habe versagt!

Ende

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