Titel: Gezeiten

Autor: Lily
Kategorie: Nachdenkliches, Dramatisches
Rating: ab 6
Anmerkungen: Selbst, wenn ich im Urlaub bin - vor mir seid ihr nicht sicher. Die Idee zu diesem Ficlet hatte ich auf der zweistündigen Fahrt in die Niederlande, auf der ich mir immer und immer wieder dasselbe Lied angehört habe, nämlich "Skellig" von Loreena McKennitt.
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Disclaimer: Personen und Orte gehören Tolkien, Idee und Ausführung gehören mir.

Inhalt: "Und ich kehre zurück zu euch, am Wendepunkt der Gezeiten."

Ambarenya = Quenya für Mittelerde

Gezeiten

Ich fiel. Fiel tief in undurchdringliche Dunkelheit, fiel durch brennende Feuer und schwarze Schatten, kaum die Hoffnung habend, jemals wieder das Licht eines Tages erblicken zu können.
Dann stieg ich empor. Stieg empor zum höchsten aller Gipfel, stieg empor in eine Welt aus blendendem Weiß und eisiger Kälte, kaum die Hoffnung habend, jemals wieder die Wärme der Sonne verspüren zu dürfen. Und nun bin ich hier, am Ende aller Dinge.
Das blasse Tageslicht ist schon fast versiegt, verloren in der Nacht, die mich umfängt, in der Nacht, die nun auch in mir herrscht. Über mir ziehen die Sterne ihre Bahn und jeder Tag scheint ein Lebensalter zu sein, das Flackern einer Kerze im Sturm der Zeit, Jahrhunderte lang... und Ewigkeiten entfernt scheinen mir die Tage meines Lebens. Als das letzte Licht erlischt, schwinde ich mit ihm dahin, bis nur noch Schwärze weilt, wo einst mein Herz schlug.

Doch dies ist nicht das Ende.
Die Nacht beginnt zu weichen, der Morgen graut und herauf zieht ein Schleier aus silbernem Glas, der mich eintauchen lässt in einen Schauer aus Licht, das mich wärmt, mich, der schon glaubt, vergessen zu haben, was Wärme bedeutet... es niemals gewusst zu haben. Es flutet durch mich hindurch als wäre ich ein Staubkorn auf den Strahlen der Sonne, frei schwebend im Nichts und eingehüllt in einen Schimmer Gold. Ich tanze, tanze im Wind dahin, ohne Ziel und ohne Absicht, ohne Gedanken, ohne Grund. Dann zerfließe ich in Silber, es weicht der Schleier, und ich sehe dieses Land... weiße Strände, dahinter grüne Hügel leuchtend im Sonnenschein...

Ich stehe dort, schaue hinaus auf das saphirblaue Meer. Welle um Welle um Welle bricht sich in glitzernden Schaumkronen, versickert im feinen Sand; der Wind zerrt und spielt in meinen Haaren. Ich sehe hinaus auf die tanzende See und erblicke ein schillerndes Bild, einen Funken Erinnerung an mein Leben, all das, was ich zurücklasse, was mir so lieb und wichtig ist... und doch will keine Sehnsucht mein Herz schwer werden lassen. Die Bilder haben keine Bedeutung mehr für mich, Erinnerungen sind vergangen und vergessen. Die Flut kommt und spült sie fort wie die Muscheln im Sand, nimmt sie mit sich, für immer mit sich auf den dunklen Grund des Ozeans.

Als das Wasser mich beinahe erreicht, drehe ich mich um und beginne meine Wanderung durch dieses Land, das ich viel zu lange nicht erblicken durfte. Nur träumen konnte ich von den singenden Stimmen im Wind und dem Duft der Blumen, von warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut und vom ewigen Frieden.
... und doch...
... immer noch...
... blicke ich zurück.
Nun bin ich hier, endlich wieder zurückgekehrt. Wandere zwischen schlanken Bäumen, inmitten von Blumen, unter einer rasch aufsteigenden Sonne. In der Ferne schmiegt sich silberner Nebel an die sanft fallenden Hänge von blau schimmernden Bergen, stolz tragend schneeweiße Kuppen und reichend bis in die höchsten Gefilde des Himmels. Wieder bin ich auf Reisen, versuche mich zu erfreuen am Glanze der Glückseligkeit, den ich so lange missen musste...
... damals...
Ich war Teil eines Ordens, Teil einer Aufgabe. Mit bunt schillernden Worten erzählte ich von den Taten der Valar und vom Lauf der Geschichte in der Welt, in der ich seit einem Zeitalter verweilte. Die Jahre vergingen und ich wanderte, wanderte immer weiter, über die höchsten Gebirge und durch Flüsse, die tief unter einem endlosen Himmel vor sich hin strömten. Lauschte dem Gesang von Vögeln am Morgen, Winter um Winter um Winter bis zum nächsten Frühling, mit treuen Gefährten an meiner Seite.

Bevor dieser, mein letzter Winter anbrach. Bevor ich tat, was ich niemals tun wollte. Bevor ich dieses Leben alleine hinter mir ließ und fiel, um erst wieder empor zu steigen und dann zu gehen... um all mein Wissen und meine Geheimnisse mit mir zu nehmen, unverraten. Nur der Wind trägt die Erinnerung an mich noch immer durch die weiten Lande von Ambarenya, die Vögel erzählen sich immer noch meine Geschichte.
... und doch...
... immer noch...
... kann ich nicht vergessen.
Und kehre zurück an die See.
Die Flut hat ihren Hochpunkt erreicht, spült in mächtigen Wellen den Sand fort und lässt nur glänzenden Schaum zurück. Mit jedem seiner Atemzüge fordert der Ozean ein wenig von dem Land, welches Stück für Stück ein Teil von ihm wird. Die Wellen lauschen stillen Tränen, während ich dort stehe, all das sehe, was ich zurücklasse - und beginne, zu zweifeln.
"Du beginnst nicht zu zweifeln. Du tatest es bereits all die Zeit lang, die du hier nun verweilst", höre ich eine Stimme hinter mir.
Ich kann nur nicken, denn ich weiß um die Wahrheit dieser Worte. Genauso, wie ich weiß, welche Worte ich als nächstes hören werde.
"Noch ist deine Aufgabe nicht erfüllt, Olórin. Es wird ein Tag kommen, da sie beendet ist, aber diese Zeit ist noch nicht angebrochen. Kehre zurück zu denen, die du geleitest durch diese dunkelsten Tage Ambarenyas."

Die Flut erhebt sich und bahnt sich ihren Weg den weißen Strand hinauf. Ein letztes Mal sehe ich zurück in diese Lande, von denen ich dachte, sie zu vermissen... doch ich weiß erst jetzt, dass meine eigene Rückkehr in die Glückseligkeit nicht wirklich das Ziel war, dass mich wandern ließ während all der Jahre meiner Reisen. Es war und ist viel mehr als das, schon immer gewesen.

Ein letztes Mal bäumt die Flut sich auf, umspült mich... und als sie zurückgeht, nimmt sie mich mit zurück in die Welt, in der ich eine Aufgabe zu erfüllen habe.
Wieder treibe ich im Strom der Gezeiten dahin, Tage, Jahre, Lebensalter, Sternalter lang. Einen letzten Blick auf die leuchtenden Lande erhasche ich, das silberne Tageslicht ist schon fast versiegt, verloren in der sternklaren Nacht, die mich erneut umfängt... doch keine Dunkelheit erfüllt mehr mein Inneres, keine Schwärze kann die Flamme in meinem Herzen zum Erlöschen bringen, als es langsam wieder beginnt zu schlagen, als ich Leben in mir fühle, ich, der schon glaubte vergessen zu haben, was Leben ist.

Wieder treibe ich im Strom des Ozeans dahin, durch die dunkelsten Nächte, bis ich in der Ferne den Gesang der Vögel am Morgen vernehmen kann... bis ich wieder erwache.
Und zurückkehre, am Wendepunkt der Gezeiten.

Ende

(c) 2005 by Lily

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