Titel: Tränen der Sonne

Autor: Vilyana
Kategorie: Nachdenkliches
Rating: ab 6
Anmerkungen: Danke an Drachenfee fürs Betalesen!
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Disclaimer: Gehört alles Tolkien.

Inhalt: Arien, die Maia, die das Schiff der Sonne fährt, denkt über ihr Leben nach.

Tränen der Sonne

Die Tage kommen und gehen, bringen Hoffnung, doch nicht für mich. Es ist mein Schicksal... Doch hilft mir das, über meine Einsamkeit hinwegzukommen? Nein. Ich werde hier bleiben, werde weiter meinen Weg gehen, nur mit dem Ziel, ihn am nächsten Tag wieder zu beschreiten...

Manchmal sehne ich mich zurück nach der Zeit, als alles begann, bevor die Welt existierte, nach der Zeit der Musik der Ainur, nach der Zeit, als es weder gut noch böse, weder Tag noch Nacht, weder Licht noch Dunkelheit gab, nach der Zeit, als ich noch nicht meiner Bestimmung folgen musste, als ich noch eine normale Maia war wie jede andere. Die Musik hat mich damals fasziniert, besonders diese eine Stelle. Damals hatte ich es nicht verstanden, heute weiß ich es, es ist die einzige Stelle, die ich in all den Jahrtausenden nicht vergessen konnte, die mich ständig verfolgt, auch wenn ich alles andere vergesse.
Schließlich verließ ich die Äußere Leere und ging mit Vána als eine ihrer Maia. Vána... Selbst ihr Name, den ich früher so oft hörte, kommt mir mit der Zeit fremd vor. Nur noch in blassen Konturen sehe ich ihr Gesicht vor mir, die körperliche Gestalt, die sie damals angenommen hat, und beides scheint mit jedem Gedanken daran blasser zu werden.
War es die richtige Entscheidung? Wenn ich geblieben wäre, wäre ich jetzt nicht hier, ich wäre immer noch dort. Vielleicht wäre ich dort glücklicher. Oder ich würde bereuen, dass ich nicht nach Mittelerde gegangen bin als ich die Möglichkeit hatte, unwissend, dass dies geschehen wäre? Wer wäre dann an meiner Stelle? Fragen, die ich nie werde beantworten können, doch die meine Situation keinesfalls erträglicher machen.
Ich war beeindruckt, wie gefangen von einem Zauber, alles war neu und schön, und wir alle warteten auf das Kommen der Kinder Illúvatars. In diesen Zeiten wandelte ich in den wunderbaren Gärten Vánas unter den Sternen und im Licht der Zwei Bäume. Soweit ich zurückblicken kann, war dies die schönste Zeit meines Lebens, und ich denke nicht, dass es noch einmal so kommen wird. Ich liebte Vánas Gärten wie nichts anderes, ich kannte die frohen Farben der Blüten und den Glanz des Sternenlichts, das sich auf den Blättern widerspiegelte. Es gab nur eines, das mich diesen Platz verlassen ließ: Die Zwei Bäume. Stunden stand ich vor Laurelin, um seinem Goldregen zuzusehen, das strahlende Licht, das mich mehr erfreute als der schwache Glanz der Sterne. Damals. Zwar ist meine Begeisterung für Laurelin nicht vergangen, doch was würde ich heute dafür geben, noch einmal das Licht der Sterne zu sehen?
Die Zwei Bäume sind lange vergangen, aber auch durch Vánas Gärten in Valinor werde ich nie wieder gehen können, selbst wenn ich zurückkehren könnte. Ich gab Geist und Körper auf, als ich meine Reise antrat, eine Reise, die nie enden wird, bis zum Ende der Welt. Meine Gestalt ist nicht mehr als eine strahlende Flamme, grelles Licht, zu hell für ein Leben auf der Erde, und meine Augen sind von einem solchen Glanz, dass nicht einmal die Eldar sie ansehen können. Doch nicht nur Geist und Körper gab ich auf, auch noch etwas, was ich erst viel später merken sollte: Meine Erinnerung.
Tag für Tag derselbe Weg, immer dasselbe strahlende Licht... Unter mir zogen Menschenleben dahin, Reiche wurden gegründet und vernichtet, Länder stiegen aus dem Meer und versanken. Aus der Ferne konnte ich alles beobachten, doch tun konnte ich nichts. Ich konnte nur zusehen.
Länder, die Tag und Nacht kannten, die wussten was Licht und Dunkelheit war. Dunkelheit, was bedeutet das? Ich habe es vergessen. Ein leerer Begriff, nichts, was ich mir im Glanze der letzten Frucht Laurelins vorstellen kann.
Wie das Licht der Sterne langsam, aber sicher aus der Nacht hervortrat, so verblasst es nun in meiner Erinnerung. Selbst die Sterne Vardas sind machtlos gegen die Sonne, gegen das letzte, was von Laurelin geblieben ist. Die Erinnerung an mein früheres Leben scheint immer mehr zu verblassen. Nein, zu verglühen. Zu verglühen durch ein Licht, das mein gesamtes Leben zu bestimmen scheint und wogegen ich doch nichts unternehmen kann. Endlos, bis zum Ende der Welt.
Es gibt keinen dunklen Nachthimmel mehr über mir, nur beleuchtet vom klaren Licht der Sterne, es gibt nur noch Flammen. In meiner Erinnerung sehe ich nur noch schwach die einfachen Bäume Valinors, verblasst, ertrunken durch einen anhaltenden goldenen Regen. Wie fühlten sich ihre kühlen Stämme an? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann nichts mehr fühlen außer der Hitze meiner eigenen Flamme. Nicht einmal mehr an den Wind kann ich mich erinnern, der mit meinem Haar spielte wie mit den Blättern der Bäume, zu Zeiten, als ich noch eine körperliche Gestalt annehmen konnte, eine, die nicht zu hell und zu heiß war für Valinor und Mittelerde.
Selbst meinen damaligen Schmerz über das Ende der Zwei Bäume habe ich vergessen, damals war ich betrübt wie nie zu vor, heute wäre ich froh, das gleiche noch einmal zu spüren, etwas anderes als die Einsamkeit, eine Abwechslung zu einem Leben, in dem ein Tag dem anderen gleicht. Doch wie kann ich über etwas trauern, das bei mir ist, und ist es auch das letzte, was von ihm übrig geblieben ist, das einzige, was seinen Untergang überdauert hat? Über etwas, dessen Schicksal mit meinem verknüpft ist, zu eng, um noch an etwas anderes denken zu können?
Mit meinem Kommen endete die Zeit des sternbeschienenen Beleriands, endete die Zeit der Sterne für mich, und gleichzeitig rückte der Beginn für das Erwachen der Jüngeren Kinder näher. Und nun sind die Zeitalter der Elben längst vorüber, doch mein Leben hat sich nicht verändert und wird sich nie wieder ändern bis zum Ende der Welt. Die Tage werden sich weiter dahinziehen und ich mit ihnen und ich werde weiter meinen letzten Erinnerungen nachtrauern, solange sie mir noch bleiben. Doch was dann? Was soll ich tun, wenn ich mich an gar nichts mehr erinnern kann, vielleicht nicht einmal mehr an meinen Namen?

Zwar war ich damals glücklich, als mir die Aufgabe zugeteilt wurde, dieses Schiff zu steuern, doch diese Freude ist längst vergangen und nicht mehr als eine blasse Erinnerung - selbst diese Freude wurde zur Last, als sie das einzige in meinem Leben wurde.

Der Sonnenaufgang gibt vielen in Mittelerde Hoffnung, auch wenn ich dies nicht mehr verstehen kann, wo es etwas so Alltägliches für mich geworden ist, wo ich keine Hoffnung mehr für mich habe. Mögen sie ein besseres Leben führen. Ich habe nur meine Aufgabe, mein Schicksal, mit dem ich leben muss, dem ich nicht entkommen kann. Ich bin eine Maia, eine Ainur, unsterblich, ich kann mich nicht mal im Kummer verzehren, ich kann diese Welt nicht verlassen bis zu ihrem Ende, ich kann nicht sterben... Aber kann ich leben? Ist das wirklich leben? Wenn ich alles verliere, selbst meine Erinnerung an frühere Tage, wenn ich nur noch diesen einen Weg gehe, der mein Schicksal ist? Nennt man das leben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr... Doch so werde ich weiterziehen bis ans Ende der Welt, endlos...

Ende

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