Titel: Engelstränen

Autor: Lily
Kategorie: Allgemeines, Nachdenkliches
Rating: ab 12
Anmerkungen: Implizierte Gewalt. Beitrag zur "Fortsetzungsgeschichte" im Forum.
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Inhalt: Die Welt ist kein guter Ort für einen Engel.

Engelstränen

Tropf, tropf.
Er blickte nicht auf, hörte es nicht einmal mehr.
Tropf, tropf.
Man möge vielleicht glauben, dass es ihn in den Wahnsinn treiben würde - auch er hatte dies zu Anfang geglaubt - aber tatsächlich erfüllte es ihn mit einem Gefühl der Ruhe, der Beständigkeit, ja, sogar der Geborgenheit. Er saß vornübergebeugt auf dem ungemachten Bett. Fahles Licht fiel durch vergilbte Gardinen in den engen, stickigen Raum.
Nein, das stetige Tropfen trieb ihn nicht in den Wahnsinn.

Außerhalb des Raums war die Zeit stehen geblieben. Der Lärm der Stadt war verstummt, das flackernde Erwachen der Straßenlaternen eingefroren und schon seit einem Lebensalter hing die kränkliche Abendsonne über dem farblosen Horizont, kaum stark genug, um Winternebel und Abgase zu durchdringen.
Die Welt war erfroren, die Farben verblasst. Es war niemals anders gewesen. Die Zeit kannte keine Tiefe, der Himmel hatte keinen Raum. Keinen Platz mehr für seine Engel.

Er schaute über seine Schulter, studierte die Porzellanfigur auf dem abgenutzten Bettuch, zwischen den zerwühlten Laken. Ruhig lag sie da, schweigend.
Er liebte sie. Jeden Flecken makellos weißer Haut, jeden Zentimeter ebenholzschwarzen Haares. Jedes Wort ihrer leeren Lippen. Das Alles, Etwas, ein Wenig, Nichts ihrer Seele. Die Vergänglichkeit und Unsterblichkeit ihres Seins.
Sie war ein Engel.
Fast meinte er, ihre Flügel sehen zu können, silbern und schillernd in göttlichem Licht, gegen das die Sonne selbst in ihren besseren Tagen nicht ankommen konnte.
Er wandte den Blick ab, hinaus auf die blasse Stadt.
Er konnte sie nicht ansehen.
Ihr Licht blendete ihn.

Er stand auf und streckte seine schmerzenden Muskeln. Langsam sammelte er seine Kleider vom ausgetretenen Parkett und dem wackelnden Stuhl am Fenster, ging in das angrenzende Badezimmer. Ein fleckiges Neonlicht erhellte die fensterlose Enge mit ihren bedrückend gelben Kacheln und dem gesprungenen Spiegel. Aus dem matten Kran kam nur kaltes Wasser, doch es genügte.
Konzentriert zog er eine fast stumpfe Rasierklinge über seine Wangen. Gewissenhaft wusch er seine Hände rein von dem dunklen Schmutz, der auf ihnen getrocknet war, und mit großer Sorgfalt zog er sich seine verknitterten Kleider an.

Kein Makel haftete ihr an, und so wollte auch er so rein sein, wie es einem Sterblichen möglich war, um ihre Seele nicht zu beflecken.
Mit einem Daumen strich er über ihre kühle Schläfe, ihre hohe, fein geschnittene Wange, die Lippen, sacht wie ein Hauch Morgenwind. Sie reagierte nicht, lag schweigend auf den Kissen, die so unrein waren neben ihr.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, umfasste er ihre Schultern und ihren schlanken Nacken, drehte sie. Ihr Kopf fiel in einer Bewegung vollendeter Grazie zur Seite, ruhte nicht mehr auf der Matraze, sondern fiel über die Bettkante hinaus ins Leere. Ihr Hals streckte sich anmutig, ihr Körper gespannt wie eine silbrige Bogensehne, die nur darauf wartete zu singen.
Augen, so klar und leer wie der Himmel, blickten ihn liebevoll an.

Sie war ein Engel.
Ihre roten Tränen wanderten ihre Schläfen hinab, durch das glänzende Haar, und fielen glitzernd wie winzige Rubine hinab auf den Boden, sammelten sich dort zu einem Meer. Und jede neue Träne warf Kreise, durchbrach die Stille, entfesselte die Zeit.

Ihr Licht blendete ihn, er konnte sie nicht ansehen. Ihre Nähe verbrannte ihn, obgleich ihre Haut kühl war und weiß wie frisch gefallener Schnee. Aber er liebte sie. Sie war ein Engel. Sein Engel. Sein Engel weinte rote Engelstränen für ihn und all das, was niemals sein würde.

Nein, das stetige Tropfen trieb ihn nicht in den Wahnsinn.
Dazu war es schon lange zu spät.

Ende

(c) 2006 by Lily

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