Titel: Abendlied

Autor: Anuriell
Kategorie: Dramatisches, Nachdenkliches
Rating: ab 16
Anmerkungen: Beitrag zur "Fortsetzungsgeschichte" im Forum
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Disclaimer: Der Titel "Abendlied" ist von dem gleichnamigen Song von Subway To Sally ausgeliehen. Aus dem Song stammt auch das in der Geschichte vorkommende Schlaflied. Fans werden eventuell Andeutungen an Die Toten Hosen und Nightwish erkennen.

Inhalt: Ein Vater fühlt sich zum Äußersten getrieben, um das Wohl seines Kindes zu sichern.

Warnung: Gewalt gegen Kinder!

Abendlied

Tropf, tropf.
Er blickte nicht auf, hörte es nicht einmal mehr.
Tropf, tropf.
Man mag vielleicht glauben, dass es ihn in den Wahnsinn treiben würde - auch er hatte dies zu Anfang geglaubt - aber tatsächlich erfüllte es ihn mit einem Gefühl der Ruhe, der Beständigkeit, ja, sogar der Geborgenheit. Er saß vornüber gebeugt auf dem ungemachten Bett. Fahles Licht fiel durch vergilbte Gardinen in den engen, stickigen Raum.
Nein, das stetige Tropfen trieb ihn nicht in den Wahnsinn.
Wochen waren vergangen, waren zu Monaten geworden und schließlich zog ein ganzes Jahr vorüber. Ein Jahr, in dem er an jedem Tag wieder das Tropfen hörte. Er hatte es zu oft vernommen, als dass es ihn noch stören würde.
Er stockte, sah an die Wand, der er gegenüber saß, und blickte auf den Kalender, der dort hing. Tatsächlich war es genau heute vor einem Jahr geschehen, dass er diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte. Viele weitere Jahre sollten noch folgen, bevor er ihn je wieder in Freiheit verlassen können würde. Und selbst dann würde er nur in einem dunkeln, hölzernen Sarg hier heraus kommen. Lebend würde er niemals wieder einen Fuß nach draußen setzen. Bis dahin war er eingesperrt, in vier Wänden, die ihn tagtäglich zu erdrücken drohten.
Doch er hätte es ertragen, hier gefangen zu sein, hätte es nicht als schlimm empfunden.
Etwas aber quälte ihn. Es quälte ihn jeden Morgen, wenn er aus dem Bett stieg, wenn seine Tür aufgeschlossen wurde und er zu dem ihm zugewiesenen Arbeitsplatz geführt wurde. Es quälte ihn jeden Abend, wenn sich die schwere Tür erneut hinter ihm schloss und er den Schlüssel hörte. Es quälte ihn jede Nacht, wenn er einsam auf dem Bett lag und durch die zur Seite geschobenen Gardinen ein kleines Stück des Himmels sehen konnte. Es quälte ihn in jedem Traum, wenn er jene verhängnisvolle Nacht wieder und wieder erlebte. Es war seine Seele, die in ihm brannte und ihn quälte, ihn nie vergessen lassen würde. Seine Seele starb.
"Du hast keine Seele, du bist ein Monster!", hatte man ihm zugerufen und er hatte es geglaubt. Doch dann spürte er, dass er sehr wohl eine Seele hatte, und verwünschte sie, wollte sie am liebsten zum Teufel schicken, damit der sie verbrannte.
Nie war ein Wort des Leidens über seine Lippen gekommen, nie eine Beschwerde. Er verdiente es nicht anders, als es ihm hier drinnen widerfuhr, denn es war seine gerechte Strafe. In Gedanken sehnte er sich nach dem Tod, flehte ihn an, dass er kommen und ihn holen würde. Doch der Gefallen wurde ihm nicht getan. Er sollte leiden und Buße tun für sein schreckliches Vergehen.

"Nein, du bekommst mein Kind nicht!", schrie er seine inzwischen schon lange geschiedene Frau Mara an. "Hörst du? Du bekommst meine Tochter nicht!"
"Klaus, nun sei doch vernünftig, ich bitte dich! Du musst doch einsehen, dass sie es bei mir besser hätte", versuchte sie ihren verzweifelt wirkenden Ex-Mann zu beschwichtigen. "Ich kann ihr eine feste Familie bieten, ein gesichertes Einkommen, wir haben jetzt ein großes Haus mit Garten. In der Nachbarschaft sind viele Kinder, sie wird schnell neue Freunde finden."
"Eine feste Familie? Ich war ihre Familie, ich war es die letzten fünf Jahre ganz alleine, weil du kein Interesse mehr an ihr hattest, kaum, dass sie auf der Welt war! Erinnerst du dich nicht mehr an das Versprechen, das wir uns gaben? Bis das der Tod uns scheidet? Und weißt du noch, dass ich auch unserer Tochter dasselbe versprach? Nur der Tod könne mich von meinem Kind trennen, gab ich ihr mein Wort - und bei Gott, ich werde es halten."
Entschieden schüttelte Mara mit dem Kopf, so dass ihr ihre kurzen, braunen Locken ins Gesicht flogen. "Du kannst sie doch sehen. An zwei Wochenenden im Monat kannst du sie abholen und in den Sommerferien kann sie eine ganze Woche zu dir. Natürlich bist du auch zu ihrem Geburtstag eingeladen, du bist und bleibst schließlich ihr Vater. Aber du musst einsehen, dass sie es bei mir und Ralf besser haben wird."
Klaus, der aufgesprungen war, ließ sich nun wieder in seinen Sessel zurück sinken. Natürlich war das Appartement, in dem er lebte, nicht das beste, aber es war sauber und ordentlich. Das Kinderzimmer hatte er mit viel Liebe eingerichtet und alles Geld, was er zusammen sparen konnte, hatte er dahinein investiert, seiner geliebten Josefine kleinere Geschenke machen zu können. Für dieses Kind hätte er alles getan, sogar sein Leben hätte er für sie geben. Seine Stimme war leise, als er wieder sprach: "Ich allein habe sie großgezogen. Willst du einem fünfjährigen Kind seinen Vater nehmen, der alles ist, was sie kennt? Du bist eine Fremde für sie, kannst du ihr das zumuten? Es war deine Entscheidung, damals abzuhauen, ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine Erklärung. Das einzige, was ich von dir bekam, waren die Scheidungspapiere. Nun kommst du nach all den Jahren zurück, mit einem reichen Ehemann, und plötzlich interessiert meine Tochter dich? Du hast ihr nicht einmal eine Karte zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschickt, wie kannst du da behaupten, dich um sie kümmern zu können?" Wieder hielt es ihn nicht länger in dem Sessel, der bedrohlich knarrte, als er sich erneut daraus erhob. "Du bekommst mein Kind nicht. Diesen Streit wird ein Richter entscheiden müssen."

Geschlagen, mit hängendem Kopf und Schultern trat Klaus aus dem Gerichtsgebäude zurück hinaus ins Freie. Noch immer hallten die Wortes des Richters in seinem Kopf nach. "Kann ihr nichts bieten … keine feste Familie … ständig auf Arbeit …" Wollte man ihm tatsächlich einen Vorwurf daraus machen, dass er das kleine Bündel, dass ihm damals in die Arme gelegt worden war, nicht weggegeben hatte? Dass er es nicht über sein liebendes Vaterherz gebracht hatte, sie zu Fremden zu geben? Ihr Leben lang war er ihr ein fürsorglicher Vater gewesen, stets darum bemüht, sie zu einem guten Menschen zu erziehen und ihr all die Nähe zu geben, die ein kleines Mädchen brauchte, um sich geborgen zu fühlen. Er hatte gearbeitet bis an seine Grenzen und darüber hinaus, um ihr ihre Wünsche erfüllen zu können. Alles, was er war und was er tat, war nur für Josefine. Das alles sollte nun ein Fehler sein?
Eine Hand berührte ihn an der Schulter und ließ ihn herum fahren. Wie paralysiert sah er in Maras Augen und doch durch sie hindurch. "Kann … kann ich sie für heute Nacht behalten? Sie noch mal ins Bett bringen? Und mich richtig von ihr verabschieden?", hatte er sie mit von Tränen erstickter Stimme gebeten. Sie gewährte ihm seinen Wunsch und mit einem langsamen Kopfnicken wandte er sich wieder um.

"Schlafe ein, du kleine Tochter! Auch in dieser dunklen Nacht, sitzt dein Vater noch am Bettchen und hält Wacht.", summte er mit leiser Stimme, während er das letzte Licht im Zimmer löschte. Behutsam deckte Klaus sein kleines Mädchen ein letztes Mal zu, küsste ihre Stirn. Stumm blieb er dort sitzen, wartete, bis sie endgültig eingeschlafen war und ein zufriedener Ausdruck sich über ihr Gesicht legte. Sie war so unschuldig und rein, wie nur ein Kind es sein konnte.
In seinen zitternden Händen hielt er das Kissen fest, Tränen verschleierten ihm fast den Blick.
Klaus musste nun tun, was das Beste für seine Tochter war. Wie könnte er denn zulassen, dass seine Josefine zu ihrer Mutter und deren neuem Mann käme? Was wäre er für ein Vater, wenn er nicht einmal verhindern könnte, dass sein Kind bei Menschen aufwuchs, die sie ihm wegnehmen würden?
Sie würden sie vergessen lassen, wer ihr Vater wirklich war, würden ihr Ralf als neuen Vater präsentieren und niemals wieder ein Wort über ihre leibliche Herkunft verlieren. Allein der Gedanke daran, dass sie ihn eines Tages auf der Straße nicht mehr wieder erkennen würde, ließ ihm das Herz brechen.
Nein, dort würde sie niemals glücklich werden. Sie war sein eigen Fleisch und Blut, es war seine Aufgabe für ihr Wohl zu sorgen und er würde sie erfüllen. "Ich lass dich nie im Stich", versprach er ihr, auch wenn sie es längst nicht mehr hörte. "Versteh, dass es besser für dich ist. Es geschieht nur zu deinem Besten. Alles nur, weil ich dich liebe." Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich er ihr eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht. "Du weißt doch, dein Papa würde dir niemals schaden wollen!"
Geräuschlos beugte er sich über das friedlich schlafende Mädchen, ließ das große Kissen auf ihr wunderschönes Gesicht sinken, bis es ganz darunter verborgen war. Der Luft so plötzlich beraubt erwachte Josefine, womit der entsetzte Vater nicht gerechnet hatte. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Eisern drückte er den schweren Stoff auf sie nieder, spürte das Trommeln ihrer kleinen Hände, hörte leise Schreie nach Hilfe.
Das Trommeln ließ nach und auch die Schreie verstummten. Ängstlich zog er das Kissen zurück, sah in die leblosen Augen seiner Tochter, die ihn entsetzlich starr ansahen. "Bis das der Tod uns scheidet …", flüsterte er, strich über die noch warmen Wangen. Das Mädchen war tot. Jetzt war sie in Sicherheit und niemand würde ihr mehr Schaden zufügen können. Sie war für immer beschützt, an einem besseren Ort, weit weg von hier.
"Jetzt könnt ihr sie haben. Ihr Körper gehört euch. Aber ihr Geist ist frei.
Ihr bekommt meine Tochter nicht."
Blind vor Tränen hob er sie auf seine Arme. Auch später sollte er sich nicht daran erinnern können, wie er in dieser Nacht, im strömendem Regen, mit dem leblosen Körper in den Armen, den Weg in die nächste Stadt fand.
Doch der Schrei, den Mara ausstieß, als sie die Tür öffnete und ihr totes Kind sah, würde ewig in seinem Kopf nachhallen.


Die einsamen Monate in seiner Zelle hatten Spuren an ihm hinterlassen. Seine Wangen waren eingefallen, sein Haar ergraut, er war abgemagert und tiefe Falten zeichneten sein Gesicht. Alle Liebe und mit ihr alles Leben waren aus ihm gewichen. Er war nur noch ein Schatten seiner Selbst, nicht mehr zu vergleichen mit dem Mann, der er einst gewesen war. Er war gebrochen.
Ein Leben war durch seine Hand erloschen und hatte für seine Seele das Ende der Unschuld bedeutet. Nun starb sie, langsam und quälend. Doch er spürte es mit jedem Tag weniger.
Dies hier war alles, was ihm geblieben war, und auf eine befremdliche Weise erfüllte es ihn mit Ruhe und sogar Geborgenheit, dass er dieses Gebäude niemals mehr verlassen würde.
Dieses Wissen war ebenso beständig wie der alte, halb verkalkte Wasserhahn in dem kleinen Waschbecken neben seinem Bett.
Tropf, tropf. Er blickte nicht auf, hörte es nicht einmal mehr. Tropf, tropf.

Ende

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