Titel: Der letzte Abschied

Autor: Lily
Kategorie: Dramatisches
Rating: ab 14
Anmerkungen: Unabhängige Fortsetzung zu Bittersweet.
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Inhalt: Zwei Jahre lang ist er schon tot, doch er kann nicht loslassen...

Der letzte Abschied

Sie sitzt dort.
In der Dunkelheit.
Allein.
Wie fast immer, wenn ich hier bin, ihr stundenlang einfach nur zusehe und mich frage, für welches Tun ich vom Schicksal so belohnt worden bin - und warum sie diese schreckliche Strafe erfahren musste. Denn eine Strafe ist es für sie. Selbst wenn sie nicht mehr weint, wenn keine Träne den Weg ihre Wangen hinab findet und kein Schluchzen ihr entfährt, spüre ich, wie es sie immer noch zerreißt.
Dass ich sie verlassen habe.

Seit diesem einen schicksalhaften Tag geht es so. Beinahe jeden Abend, denn sie ist immer zu Haus. Früher sind wir oft zusammen ausgegangen, wir beide und die Jungs, haben Clubs unsicher gemacht oder sind einfach nur durch die leeren, schwarzen Straßen gezogen, haben von Brücken auf die Autobahnen herab gesehen, über Gott und die Welt geredet. uns erfreut an dieser stillen Schönheit. Diese Schönheit, die von den meisten Menschen einfach übersehen wird in dieser schnelllebigen Zeit, in die wir hineingeboren wurden. Der dunkle Himmel über der Stadt, mit den Millionen von funkelnden Sternen. Der blasse Mond, umrahmt von Wolkenfetzen. Sein silbernes Licht, das die Abgase von Fabrikschornsteinen zum Leuchten bringt. Die weißen und roten Lichter, die stetig unter uns dahinströmten wie ein lebendiger Fluss. All diese kleinen Dinge, die so viele Menschen übersehen. Dabei muss man nur einen Moment innehalten, still sein und lauschen um zu begreifen, dass die Welt voller Schönheit ist.
Wir haben diese Schönheit gesehen, sie hat uns immer Freude bereitet und ein Lächeln auf unsere Gesichter gezaubert.

Heute gibt es nichts mehr, dass sie zum Lächeln bringt.
Still sitzt sie dort, starrt an die Wand ihr gegenüber, leise zitternd. Kaum sichtbar bewegen sich ihre Lippen. Ich weiß, dass sie singen, den Schmerz aus ihrer Seele spülen will, so wie sie es früher immer getan hat - doch sie ist verstummt, schon lange. Kein Ton kommt über ihre Lippen, keines der Worte, die ich einst schrieb für unsere Band, die ich einst schrieb für sie, in meinem letzten Lied.
Bittersweet. Dieses Lied, das ihr einst soviel Trost spendete. Heute bleibt ihr Gesicht unbewegt und ausdruckslos, wenn es im Radio läuft, hin und wieder, nebenbei, ohne ein Wort des Bedauerns. Selbst jetzt, zwei Jahre, nachdem ich es schrieb. Ich sollte mich wohl freuen, dass es immer noch so oft gewünscht und gehört wird - doch ich kann keine Freude empfinden, denn ich weiß, dass auch in ihrem Herzen keine mehr wohnt.
Obwohl mir jede ihrer Tränen beinahe das Herz brach, schätzte ich mich am Anfang noch glücklich, jemanden wie sie gehabt zu haben, jemanden, der um mich trauert. Dieses Gefühl ist schon lange von mir gewichen - statt dessen ist eine Stimme in meinem Kopf aufgetaucht, die leise wispert, wie ich ihr das nur antun konnte. Es ihr immer noch antun kann, nach all den endlosen Tagen. Es ist der Gedanke an mich, der sie immer tiefer zieht in ihre eigene Welt, sie nicht mehr lächeln lässt und nicht mehr weinen, nicht mehr fühlen. Viel zu lange schon... es zerbricht mich jeden Abend mehr, wenn ich sie dort sitzen sehe, alleine in der Dunkelheit. Sie zerstört sich selbst, mit jeder Stunde in der ihre Gedanken bei mir verweilen.
Es muss endlich enden... doch ich kann ihr nicht helfen, sie nicht trösten, sie nicht mehr zum Lachen bringen.

Ich löse mich von der Wand, an die ich mich gelehnt habe, und gehe hinüber zu ihr. Langsam, ganz langsam setze ich mich neben sie, berühre mit den Fingerspitzen vorsichtig ihr Gesicht, ihre eingefallenen Wangen, die blutleeren Lippen.
"Ich bin hier.", wispere ich leise, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören kann. "Ich bin immer noch hier..."
Sie regt sich nicht, zuckt nicht zurück, bewegt sich um keinen Millimeter... spürt nichts. Immer noch flehe ich jeden Abend um einen Blick, eine Bewegung, irgendein Zeichen, dass sie mich bemerkt und weiß, dass ich bei ihr bin. Doch niemals merkt sie auf aus den Gedanken, in denen sie versunken ist. Sie sieht einfach durch mich hindurch.
Was würde ich darum geben, sie wieder singen zu hören, ihre Augen leuchtend, wieder zu sehen, wie sie die Welt zu erhellen vermag mit ihrem Lächeln. So kann es nicht weitergehen - ich weiß, dass sie nicht mehr lange so leben können wird... und fürchte den Tag, an dem ihr Herz endgültig brechen und ihre Seele zerreißen wird. Noch ist es nicht zu spät.
"Noch kannst du zurück.", flüstere ich in ihr Ohr. "Bitte, Shannen... komm zurück...", höre ich mich flehen, so wie sie damals mich anflehte, zurückzukehren zu ihr.

"Sha?"
Ich kenne die Stimme, die sie ruft, doch ich wundere mich einen Moment lang - bevor ich mich an den Tag erinnere, an dem ich jedem Mitglied unserer Band einen Ersatzschlüssel für unsere Wohnung gab, vielleicht damals schon ahnend, dass Shannen bald nicht mehr reagieren würde, wenn die Türglocke erklingt.
Zwiegespalten beobachte ich, wie Lance langsam die Tür zum dunklen Wohnzimmer öffnet. Ein Lichtstrahl vom Flur fällt hindurch und erhellt den Raum um eine Winzigkeit.
Langsam, ganz langsam blickt sie auf, dreht leicht ihren Kopf. "Was willst du?", fragt sie abweisend, ihre Stimme heiser.
"Wir machen uns Sorgen um dich.", erwidert Lance leise. Als Shannen nicht antwortet, den Blick wieder abwendet von ihm, schließt er die Tür hinter sich und geht weiter in den Raum. Ich weiche ein wenig zurück, als er zu der Couch tritt und sich vor ihr auf den Boden kniet, so dass sie ihn einfach ansehen muss.
"Sha.", beginnt er sanft. Sorge scheint durch seine Augen. "Wir wollten uns gleich treffen, ein bisschen Musik machen... und ich wollte wissen, ob du auch kommst.", fragt er dann plötzlich.
Shannen wirkt überrascht für einen Augenblick, bevor ihr Gesicht steinern wird und regungslos. "Warum sollte ich.", gibt sie kalt zurück, so kalt, wie ich es niemals von ihr gehört habe.
Lance seufzt leise. "Du kannst dich nicht ewig hier verkriechen, Shannen. Ich weiß genau, wie gerne du singen würdest... ich bitte dich, komm."
"Du weißt gar nichts.", zischt sie, so scharf, dass sowohl Lance als auch ich zusammenzucken. Mit diesen Worten springt sie auf. "Geh. Lass mich in Ruhe."
Er sieht ihr hinterher, wie sie durch den Raum geht, und für einen Moment meine ich Resignation in seinen Augen zu erkennen. "Nicht aufgeben.", wispere ich. "Wenn du jetzt aufgibst... verliert ihr sie..."

Dann tritt ein entschlossener Ausdruck auf sein Gesicht, als ob er mich gehört hätte, obwohl dies unmöglich ist. "Nein.", erwidert er, immer noch ruhig. "Ich gehe nicht. Wir sorgen uns um dich, Sha. Seit zwei Jahren sprichst du nicht mehr mit uns - wir lassen nicht zu, dass es so weitergeht. Komm mit."
"Nein.", erwidert sie, hebt die Stimme zum ersten Mal seit langem.
"Verschwinde, Lance." So schnell, dass sie fast schon rennt, will sie an ihm vorbei, hinaus aus dem Zimmer, und ich meine, Tränen in ihren Augen glänzen zu sehen. Vor Schreck entfährt ihr ein gedämpfter Schrei, als er sie im Vorbeigehen hart am Arm fasst.
"Das werde ich nicht." In seiner Stimme klingt unterdrückter Zorn. "Ich gehe nicht, bevor ich sicher sein kann, dass... dass du nichts Unüberlegtes tust."
Ich stehe neben den beiden, sehe zwischen ihnen hin und her. Bei Lance' Worten zuckt Shannen zusammen, ihre Augen weiten sich, Panik steigt darin auf. Sie weiß, worauf er hinaus will. Genauso wie ich.

Es war das dritte, was ich bemerkte, als wir uns das erste Mal trafen, an einem Herbsttag im menschenleeren Park. Wie allen Leuten fiel mir als erstes die Narbe auf, die sich über ihr Gesicht zieht, senkrecht von der Stirn über ein Auge bis beinahe zum Kinn. Nach einem zweiten Blick kam ich damals zu dem Schluss, dass sie dennoch etwas an sich hatte, dass sie wunderschön machte in meinen Augen - und dann, dann bemerkte ich die Narben an ihren Unterarmen, kaum verheilt, und schrak zusammen.
Heute sind sie kaum noch zu sehen, meistens versteckt unter Armbändern oder langen Ärmeln. Mit der Zeit hat sie gelernt, sich abzufinden mit ihrem leicht entstellten Gesicht, hat gelernt Blicke und Getuschel zu ignorieren, nicht zuletzt durch unsere Band und auch durch mich. Nach einigen Jahren hatten wir bereits vergessen, wie nah sie einmal daran gewesen war, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sogar sie selbst vergaß es, wollte nicht glauben, dass sie einmal dieses so wertvolle Leben aufgeben wollte.
Bilder durchzucken ihren Geist, ihr Atem geht mit einem Mal flach. Einen Moment lang bin ich versucht, Lance dafür zu hassen, dass er sie so direkt damit konfrontiert, doch kurz darauf bin ich überzeugt, dass es das einzig richtige war. Sie beginnt zu zittern, so sehr, wie ich nie einen Menschen habe zittern sehen. Lance fängt sie auf, als ihre Knie nachgeben und sie zusammenbricht, ohne einen Laut. Er scheint geschockt im ersten Augenblick, doch auch er bemerkt, dass er es geschafft hat die Mauer zu durchbrechen, als lang unterdrückte und vergessene Tränen sich einen Weg über ihre Wangen suchen, als ihre Fassade zerbröckelt wie eine Sandburg, die überspült wird von einer Flut Erinnerungen.
Die beiden sitzen dort am Boden. Es versetzt mir einen leisen Stich, sie in seinen Armen zu sehen; gleichzeitig weiß ich, dass es ihre einzige Chance ist und auch, wie viel sie ihm bedeutet. Er würde alles dafür tun, sie wieder lachen zu sehen... genau wie ich, wenn ich könnte. Langsam setze ich mich neben Lance, blicke in ihr Gesicht, an seine Schulter gedrückt, tränenüberströmt. Ich weiß nicht, wie lange sie dort sitzen - Stunden werden es sein, denn nur langsam versiegen ihre Tränen, zögernd lässt ihr Zittern nach, ihr Atem beruhigt sich. Schließlich spricht Lance wieder, fährt ihr vorsichtig durch die Haare und über den Rücken. "Komm mit. Wir wollen neue Songs schreiben... es wird dir helfen, versprochen... ich weiß, wie sehr du ihn vermisst, Shannen. Wir alle tun das, mehr, als du denkst... du bist nicht die einzige, für die es schwer war und ist. Aber... es muss doch irgendwie weitergehen.", wispert er in ihr Ohr. "Kommt mit mir."
Immer noch sitze ich dort, als sie langsam die Augen öffnet... und mich ansieht.

Sie öffnet den Mund, scheint etwas sagen zu wollen... sacht lege ich einen Finger über ihre Lippen, bringe sie damit auf wundersame Weise zum Schweigen. Mein Hals wird trocken, als erneut Tränen in ihre Augen steigen, als ich sie so sehe... nie, niemals wollte ich sie verlieren. Vielleicht fügte ich ihr deshalb umso mehr Leid zu... nie, niemals ließ ich sie alleine, war immer da, diese beiden langen Jahre hindurch an ihrer Seite... um ihr den Abschied leichter zumachen... doch langsam beginne ich zu begreifen, dass ich alles nur schlimmer machte. Und dass es nur eine Möglichkeit gibt, ihr zersplittertes Herz zu heilen. Der Moment dehnt sich zu einer Ewigkeit, während ich zweifle, zweifle an meiner eigenen Stärke... bin ich stark genug, sie loszulassen... für immer...?
"Sha?", wispert Lance erneut, als sie nicht antwortet. "Kommst du mit?"
Sie sieht mich immer noch an, fragend, flehend, und ich weiß genau, was sie denkt. Ich kann doch nicht... vergessen... einfach gehen...
Sacht löse ich meinen Finger von ihren Lippen und schaffe es, zu lächeln, ehrlich zu lächeln... und zu nicken.
"Geh.", hauche ich. "Bitte, Sha... ich will dich wieder singen hören, lachen sehen... geh mit ihm.", bitte ich sie, obwohl es mir beinahe das Herz bricht bei dem Gedanken daran, sie zu verlieren an meinen Freund... aber ich bin nicht mehr, nur noch eine Erinnerung, lang vergangen und doch unvergessen. Ihr Glück ist wichtiger als meines.
Und obwohl es unmöglich ist, scheint sie mich zu hören. Kaum sichtbar nickt sie... und ein winziges Lächeln huscht einen Wimpernschlag lang auch über ihr Gesicht. Vorsichtig beuge ich mich vor und küsse sie auf die Stirn.

Sie löst sich ein wenig aus Lance' Umarmung und nickt zögerlich. Er sieht sie an, wohl überrascht von ihrer plötzlichen Einsicht, und lächelt schließlich, ein trauriges Lächeln. In diesem Moment glaube ich, Gedanken lesen zu können... spüre leise Schuld im Gewissen der beiden. Sie glauben mich zu verraten, wie sich dort in den Armen liegen, meine Verlobte und mein bester Freund, in dem sie darüber nachdenken, die Zukunft in Angriff zu nehmen, die mir verwehrt blieb. Aber... keine Wut und keine Eifersucht wollen in mir aufsteigen; ich fühle nur Erleichterung und bittersüßes Glück darüber, dass sie hoffentlich ihr Lachen wiederfinden wird, das ich einst so sehr an ihr liebte.
Lance steht auf, zieht sie mit sich hoch und lenkt endlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ich trete einen Schritt zurück, in den Schatten, und beobachte die beiden, wie sie die Wohnung verlassen, die Shannen und ich uns einst teilten.

Sie sitzen dort im Studio, genau wie damals, als ich noch lebte. Laith, Kian und Angelo. Sie sitzen dort mit ihren Gitarren, am Schlagzeug, und improvisieren vor sich hin. Ein dunkler Schleier liegt über ihren Gesichtern - und vielleicht, weil ich es nicht besser weiß, meine ich, dass es Trauer sein könnte. Seit zwei Jahren sind sie zum ersten Mal wieder hier, Staub liegt auf den Schränken, auf dem alten, verstimmten Flügel in der Ecke. Die Lampen flackern leicht... es stört sie nicht wirklich.
Wie ein Mann sehen sie auf, als die Tür aufgeht. Leise Erleichterung und Freude macht sich auf ihren Gesichtern breit, als sie Lance hereinkommen sehen, der einen Arm um Shannen gelegt hat. Sie ist immer noch blass, ihre Augen gerötet und eindeutig zeigend, dass sie geweint hat... aber sie ist da. Kurz darauf sitzt sie auf der Couch, ihr Notizbuch auf den Knien, und beginnt zu schreiben, während Lance am Piano sitzt und schiefe Töne spielt, gefüllt mit all den Gefühlen, die sich in ihm angesammelt haben in den letzten Jahren. Ich kann ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken, als ich Angelo beobachte, der auf die Drums eindrischt als hinge sein Leben davon ab... Kian und Laith malträtieren ihre Gitarrensaiten... alles scheint wie früher.
Nur, dass ich nicht mehr bei ihnen bin.
Irgendwann herrscht Stille, in die einige traurige Töne hineinklingen... und dann, dann beginnt Shannen zu singen. Leicht ungeübt klingt ihre Stimme nach der langen Zeit, in der sie verstummt war, doch sie ist talentiert - schon nach wenigen Versen verbannt sie jegliches Zittern, singt klar und hell... klar und hell wie die Tränen auf ihren Wangen, in ihren Augen, als sie nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder dieses eine Lied singt, das ich schrieb für sie... für uns. Bittersweet.
Noch eine ganze Weile stehe ich dort und beobachte sie, bevor ich mich losreiße von ihrem Anblick, dem Klang ihrer Stimme... ein letztes Mal vorsichtig ihr Gesicht berühre. Sie zuckt nicht zusammen, aber hält inne - sie fühlt...
"Leb wohl.", flüstere ich, spüre meine eigene Stimme dahinschwinden, ehe ich mich abwende und den Raum verlasse... ihr Leben endgültig und für immer verlasse mit dem Gedanken daran, dass ich weiterleben werde, in einer Ecke ihrer Erinnerung.

Ende

(c) 2004 by Lily

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