Titel: Bittersweet

Autor: Lily
Kategorie: Dramatisches
Rating: ab 14
Anmerkungen: Unabhänge Fortsetzung bei Der letzte Abschied
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Inhalt: Shannen versucht verzweifelt, über den Tod ihres Freundes hinweg zu kommen.

Bittersweet

Immer hast du mir zugehört, wenn ich mit dir gesprochen habe. Lange haben wir geredet über das Leben, über die Band, unsere Songs, über uns. Wir haben im Studio gesessen oder im Keller, mit Cola und Süßigkeiten, die Musik auf voller Lautstärke, und haben stundenlang diskutiert, gelacht, geredet. Ich rede noch immer mit dir, jeden Tag. Sogar wenn ich träume. Ich sitze hier im Studio und versuche einen klaren Kopf zu bekommen. Früher hast du mir dabei geholfen. Jetzt antwortest du nicht mehr. Niemals mehr.

Lance kommt herein und fragt, wie es mir geht. Wie geht es mir? Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Zurück blicken zwei tiefliegende Augen, umrahmt von dunklen Ringen. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, meine Haare zu frisieren, geschweige denn, Make-up aufzulegen.

"Entschuldige.", murmelt Lance leise. "Tut mir leid, Sha. Dumme Frage." Er hat gesehen, wie mir Tränen in die Augen steigen. Ich höre, wie er sich auf das alte Sofa fallen läßt. Er wartet, beobachtet mich, wie ich verzweifelt versuche, nicht zu weinen. Schließlich gewinne ich den Kampf. Selten genug.

"Schon gut.", sage ich und verfluche mich im selben Moment dafür. Meine Stimme ist immer noch tränenerstickt. Ich will nicht, dass er merkt, wie schlecht es mir geht. Ich kann es nicht ertragen, das Mitleid in seinen Augen zu sehen. Gnädigerweise sagt er nichts mehr und setzt sich nur hinters Keyboard. Er spielt nicht, er klimpert nur darauf herum, sucht die Töne, die die Gefühle in ihm hinaus lassen. Töne, immer mehr Töne, fast ausschließlich in Moll, hoch und tief, immer mehr. Er improvisiert, hastig, als wäre etwas in ihm, was unbedingt hinaus wollte, es keine Sekunde länger mehr aushielte, eingesperrt zu sein. Ich lasse mich in den Sessel fallen und schließe die Augen, höre zu. Die Musik tut gut, und auch wenn der Schmerz in mir noch hundertmal stärker ist als seiner, hilft sie mir. Nur ein kleines bisschen. Aber immerhin.

Lance spielt normalerweise nicht. Er drückt die Tasten in der Abfolge von einfachen Melodien, die Kian bei seinem Gitarrenspiel untermalen. Den Rest erledigt Angelo am Computer. Auch bei Live-Auftritten. Ich hatte vergessen, dass er Piano spielen kann. Spielen. Dass er Töne mit Leben füllen kann, mit Freude, Liebe. Jetzt füllt er sie mit Trauer. Immer weiter, immer wieder. Füllt den Raum solange mit Musik, bis sie den gleichen Ton hat wie den, den er fühlt. Ich weiß nicht, wie lange. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Irgendwann hört er auf.

"Spiel es noch einmal.", bitte ich ihn leise. Er wirft mir einen merkwürdigen, deutlich besorgten Blick zu. Schon wieder dieses Mitleid. Dann fängt er wieder an zu spielen, diese Melodie, eine wunderschöne, traurige, sehnsüchtige Melodie, die er am Keyboard zum Leben erweckt. Beinahe fange ich zu weinen an, doch dann werde ich plötzlich ganz ruhig.

"Wo sind die anderen?", frage ich, als er das Keyboard letztendlich doch ausschaltet. Er atmet einmal tief durch und räuspert sich, bevor er spricht. Vielleicht hat er Angst, keinen Ton über die Lippen zu bekommen.

"Bei Kian. Sie wollen den Veranstalter überreden, dass er das Konzert absagt. Wie wir es besprochen haben.", erzählt er dann genauso müde, wie ich mich fühle. In den vergangenen Tage habe ich mehr geschlafen als jemals zuvor. Dennoch schaffe ich es morgens kaum aufzustehen. Trauer ist wie eine dunkle, schwere Decke, die dich erdrücken und am Boden halten will. Ich komme nicht davon los. Vielleicht werde ich es niemals schaffen.

"Spiel noch einmal." Lance schüttelt den Kopf und geht. Nicht zur Tür, auch nicht zum Keyboard, sondern zu dem uralten Flügel, der in der hinterletzten Ecke des Studios steht. Er läßt ein paar Tasten klingen. Sogar ich kann hören, dass der Flügel mehr als verstimmt ist. Trotzdem spielt Lance. Auch ihm tut es gut, dieses Ventil zu haben. Und die Melodie trägt mich wieder davon, genau wie vorhin. Zu lange vergessenen Erinnerungen. Zu unseren letzten gemeinsamen Tagen.

Ich nehme die Blätter vom Couchtisch, die jemand dort liegen gelassen hat. Beniamins Schrift. Sie riechen sogar nach ihm. Aber den Songtext, den er dort aufgeschrieben hat, kenne ich nicht. Ich überfliege die Zeilen, während die Melodie weiterhin im Raum schwebt wie ein angenehmer Duft. Am Ende des zweiten Blattes stehen der Name unserer Band, das Datum, mehrere Ideen zum Titel des Liedes und eine Widmung. Für Shannen. Wenn ich nicht mehr da bin. Wir haben es alle gewusst. Sieben lange Monate haben wir es gewusst, zwei Jahre davor schon geahnt. Aber dadurch ist alles nur noch viel schlimmer geworden. Eine Blutkonserve. Wahrscheinlich die einzige Blutkonserve in diesem verdammten Land, die nicht überprüft worden ist. Durch das Wissen ist es alles nur noch viel schlimmer geworden. Ich habe die Angst in seinen Augen gesehen. Die Angst vor dem, was früher oder später kommen wird.

'Es können noch gut zehn Jahre bis zum Ausbruch vergehen.', hat der Arzt damals gemeint. Ich war dabei. Bei Beniamin waren es nur zwei und ein bisschen. Ich schiebe den Gedanken beiseite und lese mir den Text noch einmal durch. Lance spielt immer noch, obwohl ich ihn nicht darum gebeten habe. Wie gesagt, auch ihm tut es gut. Leise summe ich die Melodie mit, flüstere schließlich die Worte, die ich vor mir sehe. Lance beginnt von vorne, und ich singe mit, nun so laut, dass er es hören kann. Immer nur die Worte, die auf dem Papier stehen.

Irgendwann stehe ich auf und gehe zum Telefon. Angelo meldet sich. "Ich will dieses Konzert spielen." Lance sieht mich verwundert an. Am anderen Ende der Leitung herrscht Stille. Schließlich meldet sich Kian.

"Warum?"

"Wir können nicht einfach aufhören. Wir brauchen ein Ende. Wir müssen es abschließen." Die Worte klingen fremd in meinen Ohren. Bin ich eigentlich wahnsinnig? Zwei Stunden auf der Bühne, wer weiß wie viel Fans in der Halle - was will ich machen? Vor den ganzen Menschen in Tränen ausbrechen? Ich bin auch nur einer von ihnen, auch nur ein Mensch. Beniamin ist erst eine Woche tot. Sie wissen es noch nicht einmal. Eigentlich sollte eine Pressemitteilung erscheinen... aber irgendwie kommt mir das nicht richtig vor. Ich will unserem Namen keine Ehre machen. Wir müssen ein Ende finden.

Als ich später die Tür zu der Wohnung aufschließe, die ich vor kurzem noch mit ihm geteilt habe, kommen mir schon wieder die ersten Zweifel. Werden wir das durchstehen? Werde ich es durchstehen, zwei Stunden auf der Bühne, ohne Beniamin? Die Stille, die Leere hier ist unerträglich. Überall Photos, lose Zettel mit Ideen, eine Gitarre, sein Cello. Ich lasse mich auf die Couch fallen, als sich alles um mich herum zu drehen beginnt. Die Stille schreit in meinen Ohren.

Musik. Ich brauche Musik. Ganz automatisch greife ich nach einer unserer eigenen Platten. Aber ich stelle sie wieder zurück. Das würde ich nicht ertragen, Beniamins Stimme zu hören mit dem Wissen, dass es sie nur noch auf CD und Band gibt. Ich muß mich beruhigen, die Stille füllen, irgendwie... Reamonn. Das ist das Richtige. Alright. Dieses Lied habe ich immer geliebt. Es schenkte mir Zufriedenheit.

Wipe these tears away from you eyes/ just take my hand, you don't have to cry/ it'll be alright/ Baby, I'll make it alright/ don't let the world get you down... it'll be alright/ Baby, we'll make it alright... Früher durchströmte mich jedesmal ein unglaubliches Glücksgefühl, wenn ich dieses Lied hörte, immer und immer wieder... I'll pick you up when you're feelin' down/ I'll put your feet back on solid ground/ I'll pick you up and I'll make you strong/ I'll make you feel like you still belong/ Cause it's alright, it's alright, let me make it alright/ make it alright... Auch jetzt tut es mir gut. Es hilft nicht viel, aber ein bisschen, nur für diesen einen Moment, wo ich alleine im Dunkeln dort sitze... I know the pain comes from deep down inside/ but it'll be alright/ Baby, make it alright/ Baby, let me make it alright/ make it alright/ let me make it alright... Ich stelle die Anlage auf Repeat. It's alright/ it is alright/ it's alright/ it is alright...



Angelo und Laith sehen blass aus, noch blasser als der Rest von uns. Ich bin wirklich wahnsinnig gewesen, dieses Konzert spielen zu wollen. Achtzehn Songs. Ich hoffe nur, dass wir alle es durchhalten. Es ist schon schwer genug. Eine aufgeschlagene Zeitung liegt auf dem Tisch. Heute Abend spielen Restless in der Messehalle. Eine eigenwillige Mischung aus Metal, Rock und Gothic begleitet die Band um Kian Salmon und Shannen Turner, deren Gesichter niemals jemand gesehen hat. Wir spielen in absoluter Dunkelheit, geben keine Interviews. Wir wollen nur Musik machen, nichts weiter. Keine Presse, keine Photos, keine Skandale. Nur unsere Musik. Heute abend zum letzten Mal.

Die Vorgruppe verlässt die Bühne. Wir sind dran. Das Licht ist auf ein Minimum gedämpft, nur ein schwarzes, wogendes Meer von Menschen ist zu sehen. Es ist ein kleines Konzert, mit vielleicht siebenhundert Fans. Ich zittere am ganzen Körper, während ich langsam nach vorne zum Mikrophon gehe. Krampfhaft halte ich mich daran fest, aus Angst, dass meine Knie einfach nachgeben. Alright... it is alright... Ich schaffe das. Ich werde es durchstehen. Mir ist schlecht, mir wird schwindelig, aber ich bleibe stehen. Nicht hier, nicht jetzt. Ich kann spüren, wie die Jungs mich besorgt anschauen, obwohl es ihnen selbst auch nicht besser geht. Ich drücke mir eine Hand vor den Mund und unterdrücke mit aller Macht das Zittern und die Tränen. Der Platz neben mir ist leer. Wo bist du jetzt, Ben? Ich schaffe das nicht allein... komm zurück... ich höre, wie Kian sich räuspert. Seine Stimme ist rauh.

"Wir haben... etwas Wichtiges zu sagen.", beginnt er langsam. Er hat sich die Worte zurecht gelegt, aber es hilft nicht viel. "Morgen wird es in der Zeitung stehen, aber... dieses Konzert heute abend wird unser Letztes sein." Ein Meer von Pfiffen erhebt sich, von enttäuschten und wütenden Klängen. Schon fast ein halbes Jahr haben wir nichts mehr von uns hören lassen, und jetzt lösen wir uns auf. Kian wartet lange, bis es wieder relativ ruhig ist. "Es wird unser letztes Konzert sein, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem wir heute Abend nicht vollständig sind." Er zögert und sieht mich kurz an. "Heute vor einer Woche ist Beniamin im Krankenhaus in Folge von AIDS an Kreislaufversagen gestorben."

Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das... ich kann nicht... ruhig, ganz ruhig, alright. Es sind nur zwei Stunden. Zweimal sechzig Minuten à sechzig Sekunden. Kian redet stockend weiter, aber ich höre nicht mehr zu. Am Rande nehme ich die Reaktionen des Publikums war. Dann irgendwann zählt Laith das erste Lied ein, die Band beginnt zu spielen. Einen Moment lang kann ich mich nicht an den Text erinnern, nicht einmal daran, welches Lied es überhaupt ist. Aber dann... Save me once again, das erste Lied, das ich damals für Restless geschrieben habe. Ich staune selbst darüber, dass meine Stimme nicht im Mindesten zittert.

Ein Song erledigt, jetzt der Nächste. In a moonlit night. Ich nehme kaum wahr, wie die Zeit vergeht, ein Lied nach dem anderen singe ich. Pause. Und weiter geht es. Immer weiter. Ich höre die Menge nur leise, wie durch einen alten Lautsprecher. Es ist wie in einem Traum. Ich fühle nichts mehr, ich höre mich selbst nicht einmal mehr singen. Ich stehe einfach nur da, das Mikrophon umklammert, und bin doch ganz woanders. Playing hide and seek. Das war unser letzter Song. Kian sagt irgend etwas. Plötzlich ist der Lautsprecher weg. Ich höre das Publikum nach einer Zugabe schreien.

"Sha?", fragt Kian mich. "Willst du...?" Er beendet seine Frage nicht. Will ich noch ein Lied singen? Welches? Groß ist die Auswahl nicht. Wir haben nichts geprobt. Wir wollten es so schnell wie möglich hinter uns bringen. Eigentlich fühle ich mich kaum noch dazu in der Lage, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Aber ich stehe trotzdem noch auf beiden Beinen, obwohl ich sie nicht mehr fühle, und ich kann immer noch sprechen, obwohl ich mich selbst kaum hören kann. Mein Kopf ist leicht, so leicht und leer.

"Es gibt noch ein Lied. Sein letztes Lied."

Leise beginne ich zu singen, ganz ohne Musik. Erst nach ein paar Takten höre ich, wie Lance auf dem Keyboard zu spielen beginnt. Diese wunderschöne Melodie. Es ist still geworden. Da ist nichts mehr außer dieser Melodie und meiner eigenen Stimme.

Nichts stört das letzte Lied. Beniamin wusste genau, wie ich mich fühlen würde. Für Shannen. Wenn ich nicht mehr da bin. Er hatte Angst, so eine furchtbare Angst, jeden Tag, wenn die Grippewelle über die Stadt zog, wenn wieder ein neues Melanom auf seiner Haut entdeckte, wenn ihn ein Schnupfen ins Krankenhaus zwang. Bis zuletzt hatte er Angst. Er wollte nicht gehen. Er wollte leben. Wir wollten leben. Ich saß an seinem Bett, als es zu Ende ging. Ich habe seine Hand gehalten. Ich habe die Angst in seinen Augen gesehen, aber auch die Erleichterung, die Gewissheit, dass es jetzt endgültig vorbei ist. Zum Schluss war es eine Erlösung. Alles hat zwei Seiten, immer und überall. Auch dieser letzte Song. Bittersweet.

Ich singe ein letztes Mal den Refrain. Immer noch kann ich singen, obwohl schon lange Tränen über meine Wangen laufen. Während Lance das Leadout spielt, kommt trotzdem kein Schluchzen über meine Lippen. Ich fühle nichts mehr. Nur noch diesen Schmerz irgendwo in mir, der mich zerreißt. Es soll aufhören. Ich kann es nicht. Ich schaffe das nicht allein. Es geht nicht ohne Beniamin. Sie schreien noch immer nach einer letzten Zugabe. Aber ich kann nicht mehr. Ich stehe noch immer dort, eine Hand am Mikrophon, aber ich bin schon längst nicht mehr da.

Ich kann nicht mehr. Ich stehe noch immer auf der Bühne, die Mikros sind noch an, aber ich kann nicht mehr. Ich zittere unkontrolliert, ich kann es nicht stoppen. Schluchzend ringe ich nach Luft. Ich kann kaum noch atmen, nicht mehr stehen. Irgend jemand sagt etwas, das Licht geht an. Geblendet schließe ich das eine Auge, auf dem ich sehen kann. Die Narbe, die sich quer über mein Gesicht zieht, beginnt zu schmerzen. Irgend jemand packt meine Schulter. Ich kriege noch immer keine Luft. Will ich auch gar nicht.

"Jemand soll einen Krankenwagen rufen... Sha!"

Ich schüttle die Hand ab. Meine Knie geben nach, und ich sacke auf den kalten Boden. Leise Panik keimt in mir auf. Ich kann nicht atmen. So sehr ich es auch versuche, ich kann nicht atmen. Und die Tränen brennen in der Narbe, die mein Gesicht entstellt. Alles brennt. Ich brenne. Von irgendwo kommt ein Sanitäter auf mich zu. Die Jungs sind auch da. Security. Das Publikum. Aber ich bin nicht mehr da. Beniamin ist nicht mehr da, also bin ich auch nicht mehr da. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es tut so weh, so sehr weh... und ich weiß, dass es nicht aufhören wird, egal wie lange ich warte, wie sehr ich mich bemühe, es wird niemals wieder aufhören...

"Ich kann das nicht... ich schaffe das nicht allein... komm zurück... komm zurück..."



Im Nachhinein denke ich, dass es ein Fehler war, dieses letzte Konzert zu spielen. Die Band gibt es nicht mehr, aber ein Teil von mir ist immer noch Restless. Ich habe es nicht zu Ende gebracht. Ich wollte wohl den Schmerz irgendwie auslöschen, aber ich habe es nicht geschafft. Heute ist es schon ein Jahr her, seit ich mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die alten Songs höre ich mir immer noch nicht an. Ich singe nicht mehr. Vielleicht irgendwann, wenn es besser geworden ist. Jetzt tut es immer noch weh, so unglaublich weh. Aber es ist schon besser geworden. Nicht viel, nicht genug, aber doch ein ganz kleines Bisschen.

Ende

(c) 2003 by Lily

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