Titel: Die Theatermaus

Autor: Lily
Kategorie: Dramatisches
Rating: ab 12
Anmerkungen: Die Geschichte ist schon etwas älter; da ich sie aber bei einem Wettbewerb eingesendet hatte, kann ich sie erst jetzt veröffentlichen, wo ich weiß, dass sie nicht für eine Anthologie ausgewählt wurde. Markus, wenn du das liest - alles, was dir bekannt vorkommt, war beabsichtigt :)
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Inhalt: Ein Festmahl dort auf den Brettern, die die Welt bedeuten...

Die Theatermaus

Oh, das riecht verführerisch. Brotkrumen, Schinkenkrümel. Ein Festmahl, das dort auf den Brettern liegt.
Nun aber schnell, ehe dieser Leckerbissen in einem Eimer dreckigen Putzwassers verschwindet. Ein paar Schritte, ein Rascheln, kaum hörbar im unendlichen Theatersaal. Rote Samtvorhänge, verschlissen und Fäden ziehend, schleifen sacht in der Zugluft über den Boden. Es ächzt und knackt im Gebälk, es raschelt zwischen den dunkelroten Sesselreihen, es fiept und zwitschert unter Stufen und Böden.
Aber halt, was ist das?
Hinter der Tür zum Bühneneingang erwacht eine Glühbirne zum Leben. Licht schaut dort unter dem Türspalt hervor und beleuchtet die Bohlen.
Ohren auf! Kommt dort jemand?
Es poltert, als ein schwerer Schminkkoffer auf den Boden gestellt wird. Ein Kostüm wird von der Stange genommen - ein weißes Kleid, ein Hochzeitskleid. Der Schleier, vergilbt an den Rändern, schleift über den ausgetretenen Teppichboden. Ein Räuspern, zögerlich angeschlagene Töne, dann eine Stimme. Der Gesang ist heiser, aber geübt.
Schnell weg, schnell weg!
Rasch, dort hinter den selbstgezimmerten Paravent, zum Hutständer, zu den Kostümen auf langen Stangen, hinein in die Schatten.
Die Tür wird aufgestoßen, die Bühnenlichter flimmern, ehe sie die schwarze Leere der Bühne erhellen. Dunkles Holz schimmert, aus den Vorhängen fliehen, unhörbar schreiend, grau und braun gefiederte Motten ins Dunkel des Saals.
Weiter zurück, hinein in die Schatten!
Aber sie schaut gar nicht her, schaut auf die leeren Sesselreihen, die niemals voll werden, auf die verzogenen Flügeltüren, die niemals repariert werden, schaut hinaus in die Welt. Der Schleier folgt ihren Bewegungen, wischt über die Brotkrumen, die nach Schinken riechen, wischt über ein Festmahl auf zerkratztem Holz.
Schritte!
Zurück, zurück!
Schwere Schritte, die den Saal zum Dröhnen bringen, Schritte in einem dunklen Anzug, ein rotes Gesicht, glänzend wie Schinken.
"Emanuela!"
Kaum verhohlene Abscheu. Ein pflichtbewusstes Lächeln, das nicht über ihre Lippen hinausreichen will. Emanuela verschränkt die Arme wie schützend vor der Brust, so fehl am Platze in dem einstmals prächtigen Kleid. Sie steht dort, das Kinn erhoben, hinter den Augen der erlöschende Schimmer vergangenen Stolzes. In dem verhärmten Zug um ihren Mund steht das Zeugnis zu oft übergangener Würde geschrieben.
"Spielen wir morgen?", fragt sie mit seltsam wirkender Eindringlichkeit. Ihre Augen glimmen in unterschwelliger Panik, die Hände sind in den ungebügelten Stoff des Kleids gekrallt, der Mund geöffnet und nach Luft ringend, als hinge ihr Leben von der Antwort auf diese Frage ab.
Er mustert sie, abschätzend und mit... ist es Mitleid? Wohl eher Herablassung. Sein Gesicht glänzt wie Schinken im Zwielicht, die Augen verschwindend in dem roten Speck, unappetitliche Maden in einer verführerisch anmutenden Mahlzeit.
"Wir spielen nicht."
Emanuela keucht auf, das Weiße ihrer Augen leuchtet durch die Düsternis. Die Naht am Rücken des Kleides dehnt sich, bis das strapazierte Garn zerreißt, nicht dramatisch, sondern fein und leise wie der schleichende Tod. Der Schleier weht ruckartig über den Boden, fegt die köstlichen Brotkrumen weiter an den Bühnenrand.
"Aber wann, wann spielen wir?" Ihre Stimme überschlägt sich. Die Abscheu für einen Moment vergessend, tritt sie auf ihn zu, die Hände losgelöst und bittend zu ihm gestreckt.
Er schnaubt. Es ist ein lautes Geräusch, das durch den Saal fährt wie ein Messer durch Käse. Der Speck hebt und senkt sich, grollt in perverser Imitation eines gutmütigen Lachens. Das Rot, zuvor köstlich, brennt sich durch ihre Augen, die Maden fressen sich durch den Schädel in ihr Gehirn.
"Emanuela", und die Worte tropfen wie Fett, "du weißt, dass die Ränge leer bleiben. Wir spielen keinen Gewinn ein. Wir werden nie mehr spielen." Der Speck beruhigt sich, verzieht sich zu einer Grimasse, die als Lächeln interpretiert werden kann. Die Geste der roten Hände wirkt fast jovial, wären da nicht die Maden, die immer noch lauernd in ihrem Versteck sitzen.
Der Schleier verfängt sich unter abgenutzten Absätzen. Sie weicht zurück, als hätte er nach ihr geschlagen, das Gesicht zu einer Fratze entgleist, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben ist. Die Angst in den Augen aber wohl, wenn auch nur in der Vorstellung: Die Angst eines Menschen, der sich seinem Ende gegenüber sieht.
"Das geht nicht!" Die Stimme ist schrill, das Glimmen hinter den Augen nicht mehr erzwungen stolz, sondern flackernd, zerbrechend, schwindend und bald nicht mehr. "Wo soll ich spielen? Wo soll ich hin?"
Wieder bebt der Speck. Wieder glänzt Schinken im Rampenlicht.
"Meine Liebe", dröhnt der Fleischberg, "eine so begabte Schauspielerin wie du wird schnell eine neue Anstellung finden." Die Maden zwinkern und lachen in unverhohlenem Spott.
Das Kreischen ist so laut wie der Schrei eines Adlers.
Zurück in die Finsternis, hinab auf den Boden. Kreist dort eine Gestalt unter den dunklen Kronleuchtern? Gleitet dort ein Schatten über die Bohlen?
"Das kannst du nicht machen!" Blasse Hände strecken sich flehend vor, der weiße Körper bewegt sich, stürzt sich auf den roten Schinken, die Finger, dürr wie die Klauen einer Verhungerten, greifen ein gebügeltes Hemd.
Laut schallt es durch die Düsternis. Erst Fleisch auf Knochen, rot und weiß, dann ein Pochen, dumpf, ein schwächliches Knacken und Stille.
Der Schinken bebt, das Rot glänzt. Die Maden leugnen alles, das Fett läuft über die Stirn die Schläfen hinab, die Hände ringen verzweifelt mit Nichts. Schwere Schritte, die den Saal zum Dröhnen bringen, als er herumfährt und flieht.
Die Lampen erlöschen. In der hereinbrechenden Dunkelheit lodern die Glühfäden rot und golden, dann herrscht Schwärze. Die Schritte sind verstummt, Schweigen ist zurückgekehrt. Nur ab und an findet ein roter Tropfen seinen Weg durch die Bretter und tropft spottend hell in das Nichts unter der Bühne. Süßlicher Geruch liegt in der abgestandenen Luft. Ein Festmahl, das dort auf den abgenutzten Holzbohlen liegt, direkt neben den erloschenen Augen Emanuelas. Brotkrumen unter dem rot verfärbten Schleier, Schinkenkrümel unter den erkaltenden Händen.
Fiepen, Knacken, Rascheln, Zwitschern.
Für manch einen sind die roten Samtvorhänge eine willkommene Wohnung. Für andere bedeuten die Sesselreihen ein Versteck, die Gänge Jagdreviere. Für den einen bedeuten diese Bretter eine gelungene Abendmahlzeit.
Und für jemand anderen die ganze Welt.

Ende

(c) 2006/2007 by Lily

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