Titel: Lebenszeit

Autor: istawen
Kategorie: Dramatisches
Rating: ab 6
Anmerkungen: -
Feedback an:

Inhalt: -

Lebenszeit

Einsam liegt sie auf den weißen Laken, zerbrechlich wie Glas und doch stark. Ihre innere Sonne ist verblasst, schickte die letzten wärmenden Strahlen bevor der Winter seine Kälte bringt. Mein Herz weint vor Trauer. Sie hat mich zum Lachen gebracht mit ihren Geschichten die mir gleichzeitig ein Geheimnis blieben, ein Buch, dessen Sprache ich nicht verstand.

"Warum bist du so voller Schmerz, dass die Süße des Lebens deine Lippen mit Salz benetzt?", fragte sie mich eines Tages als ich an ihrem Bett saß. Ich konnte es ihr nicht sagen, etwas hatte mir den Kopf gefangen, die Zunge gebrochen. Doch sie schien in mich hineinzusehen und meinen Gefühlen Worten zu geben, die sich in ihrem Geist formten.
"Weine nicht wenn meine Zeit vorüber ist. Zeit ist nicht wichtig."
"Zeit ist unser Tod!"

"Sie ist auch das Leben."

Dann nahm sie mich an der Hand und zeigte mir was Zeit ist:

"Zeit stiehlt sich davon und bewegt sich doch keinen Zentimeter, ein Blatt im Herbst, ohne Wind bleibt es still. Sie ist das Rauschen wenn der Wind heraufzieht, drohend und unaufhaltsam, die Ruhe, wenn man sich nach dem Sturm sehnt, der die Veränderung bringt, der Flut gleich, die die Burgen des Gestern hinfortträgt und Platz macht für die Gebilde des Morgen.
Wie das sanfte Rauschen des Meeres, das harte Klopfen des Sturms, so sehne ich mich danach diese Gebilde zu bauen, zu sein.

Und perlend zu werden, die Form verändernd, sich jede Sekunde neu definierend.
Wie ein Spiegel der Welt die mich umgibt, in der ich Spuren hinterlasse, wie Tropfen auf Glas oder als würde ich meinen Weg durch Sand gehen, die Spuren die ich hinterlasse sind nicht dauerhaft, sie bleiben bis die Sonne sie trocknet oder der Wind sie verweht.

Manchmal singt mir der Nordwind mit seinem eisigen Atem das Lied des Verklungenen und bringt mir die Spuren zurück.
Glucksend fließt das Lachen über Steine durch sanft gewundene Bachbetten in den See des Gestern, dessen Wasser den unstillbaren Durst löscht, unsere gefesselten Gedanken befreit und ihnen Flügel gibt die sie in die Welt hinaustragen.
Leise kräuseln Gedanken die Oberfläche, tragen flüsternd Nachrichten weiter, Wellen säuseln sie in jedes offene Ohr.
Man kann sich nicht dagegen erheben, den Lauf unterbrechen, genausogut könnte man versuchen ein flüstern zu fangen.

Wenn die Sonne dich sanft kitzelt während du in dem weichen Gras der Wiese liegst, dann spürst du die Zeit mit allen Sinnen: Wie sie sanft in den Blättern des Waldes raschelt, den Geruch von frischem Gras heranträgt, dich berührt mit dem feurigen Atem und den Himmel über dir formt. Und so formt sie auch dich:
Mit jedem Augenblick formt sie dich neu, du bist frischer Lehm in ihren Händen.

Die Zeit rinnt den Menschen durch die Finger, einem sanften Flüstern gleich, das jedes Ohr erreicht und sich dort einnistet, die Melodie des Vergehens summt, ein Lied verwoben aus dem Sprießen der Blumen im Frühling, dem Zirpen der Grillen im Sommer, dem Rauschen der blätter im Herbst und dem Fallen der Schneekristalle im Winter.
Die Zeit ist all das und noch viel mehr.
Man hört sie im Lachen der Kinder und sieht sie in den Tränen der Freunde.
Sie ist in jedem Tropfen der vom Himmel fällt und in den weiten der See.

Denn sie ist weder groß noch klein, stark oder schwach, hell oder Dunkel, gut oder böse - sie ist!

Und das macht sie dem Menschen zum Feind - weil nichts sein kann ohne etwas anderes sein zu wollen, etwas mehr!

Doch was sind wir selbst mehr als Leben?
In unserem Begehren mehr sein zu wollen, übersehen wir, dass wir schon alles sind.

Ein perlender Quell des Lebens!"

Für mich war sie immer ein Schiff, das mich durch das Leben segeln ließ, ein Schiff zwischen den wogenden, sich aufbäumenden Bäumen der Welt -und ich: stets darum bemüht, das Schiff nicht kentern zu lassen.
Sie beschützte mich vor dem was nicht Liebe war und erklärte mir die Rätsel, die mir der Alltag aufgab.

Sie gab mir so vieles mit auf meinen Lebensweg.
Sie gehen zu lassen, ist ein Schnitt in das Fleisch meiner Seele.

"Wir sind alle ein Wort in dem Buch der Zeit, des Lebens.",
war das Letzte, was sie mir auf diesen Weg mitgeben sollte.

Doch ich glaube auch, dass wir mit jedem Schritt, den wir machen, ein Wort in der Geschichte des Lebens schreiben.
Alles Gesagte wird zu Bild, illustriert das Leben mit unfertigen Strichen, Symbole für das noch nicht beendete Leben.
Wir sind alle ein stetig wachsender Baum, schwach am Anfang, eine Stütze für den Schatz der Liebe später.
Immerzu dem Himmel entgegen wachsend, streckend, bis die Fingerspitzen samtene Wolken berühren.
Jeder Ast eine Sprosse zum Glück.

Sie ist ein Pfeil,
losgelassen von der Sehne der Sehnsucht.
Denn schon immer sehnte sich ihre Seele zum Horizont des Seins.
Den sie nun schließlich überschritten hat auf ihrem Weg ins Licht.

Zurück | Zurück zu Geschichten