Titel: Von Träumen und Tänzern

Autor: Lily
Kategorie: Fantasy, Humor
Rating: ab 12
Anmerkungen: Ein locker-leichtes Geschichtchen.
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Inhalt: Eine Nacht, eine Aufgabe, zwei Elfen, eine sprechende Katze und - Traumtänzer. Das Wort Chaos bekommt eine völlig neue Bedeutung, als Lucia Sonnentochter bei einer Routineaufgabe ein kleines Missgeschick passiert...

Von Träumen und Tänzern

"Sie schläft", flüsterte Lucia Sonnentochter so leise wie möglich, um das schlafende Mädchen nicht zu wecken. "Sie ging schon um neun Uhr zu Bett. Ich glaube, sie war frustriert... wirf mal einen Blick in den Papierkorb. Sie hat ungefähr zwei Dutzend halb beschriebene Seiten weggeworfen. Normalerweise kritzelt sie selbst noch die Rückseiten ihrer Notizzettel voll...", erzählte sie leicht besorgt und mit zusammengezogenen Augenbrauen.

"Das tut sie nicht aus Sparsamkeit", entgegnete Fräulein Silberschein spitz, mit funkelnden grauen Augen. Sie saß auf der Gardinenstange aus Edelstahl und wippte mit den nackten Füßen im Takt einer Musik, die nur sie selbst hören konnte. Hin und wieder berührten ihre Beine den weichen Stoff der weißen Gardine, der leicht im Wind wehte. Das Fenster war halb geöffnet, ließ die schwüle Luft der Sommernacht und auch ein wenig vom dem fahlen Licht der Straßenlaterne an der nächsten Ecke hinein.

Das schwarzhaarige Mädchen am Schreibtisch sah verärgert auf. "Ich finde das nicht lustig", murmelte sie ernst.
Die Andere seufzte. "Natürlich nicht", betonte sie übertrieben. "Und es kommt soo selten vor, dass du etwas nicht lustig findest. Du solltest wirklich etwas ernster sein. Wie deine Katze zum Beispiel. Die ist die Ernsthaftigkeit in Person", fügte sie hinzu und grinste auf eine Art und Weise, die Lucia beinahe in den Wahnsinn trieb. Fräulein Silberschein schien vom Zynismus zu leben wie andere vom geschriebenen Wort selbst.
"Ist ja schon gut", fauchte sie zurück und hatte dabei nicht unerhebliche Ähnlichkeit mit einer ausgewachsenen Löwendame. Kaum hatte sie die Worte gesprochen, da fiel ihr Blick - nun wieder besorgt - auch schon zum Bett hinüberhuschte. Doch das Mädchen darin schlief ruhig weiter. Nun, so ruhig, wie man eben schlief, wenn man zornig auf sich selbst zu Bett gegangen war, nicht weil man müde war, sondern weil man sonst etwas tun würde, was man später - spätestens am nächsten Morgen - sehr, sehr bitter bereuen würde.

Lucia zuckte zusammen, als etwas Weiches, Warmes mit einem Mal ihre unbekleideten Beine berührte und dabei ein Maunzen hören ließ, das stark an ein spöttisches Lachen erinnerte.
"Wish!", wisperte sie atemlos. "Du sollst mich doch nicht so erschrecken." Ihre Augen verfolgten die graue Katze, die mit einem Satz auf der Schreibtischplatte landete, sich dann an die Gardine krallte und zu Fräulein Silberschein emporkletterte, ihre Samtpfötchen putzte und sich schließlich zu einer Antwort herabließ.

"Reg dich nicht so auf. War nur ein Spaß", miaute die stattliche Katze Wish und fixierte Lucia mit gelben Augen. "Könntest du vielleicht zur Sache kommen, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Ich habe Hunger", fuhr sie fort und fuhr mit ihren Krallen bedeutungsvoll über den Edelstahl. Die beiden Mädchen hielten sich augenblicklich die Ohren zu, was bei Fräulein Silberschein dazu führte, dass sie von der Stange fiel und unsanft auf der Fensterbank landete, exakt zwischen einer Kaktee und einem Nadelkissen.
"Wish!", zischte sie nun ebenfalls und schickte einen funkensprühenden Blick nach oben hinterher, ehe sie sich aufsetzte und ihr weißes Kleid untersuchte. Plötzlich hielt sie inne und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

"Was ist?", hauchte Lucia verwirrt - diesen Gesichtsausdruck sah man höchst selten bei Fräulein Silberschein.
"Dieses... Mädchen...", stöhnte sie leise, "hält leider nicht überall soviel Ordnung wie auf ihrem Schreibtisch..."
Lucia erstickte beinahe bei dem Versuch, nicht in Gelächter auszubrechen. Als sie sich endlich wieder beruhigte und nach Luft schnappte, traute sie sich, in das Gesicht des weißhaarigen Mädchens zu schauen. Der Anblick ließ sie erneut loskichern.
"Leise!", befahl Katze Wish in dem Moment. Das Mädchen auf dem Bett drehte sich unruhig im Schlaf hin und her. "Ihr weckt sie noch auf mit eurem Radau!"
"Wer ist denn bitte schön dafür verantwortlich?", schoss Fräulein Silberschein zurück, stellte sich auf die Fensterbank, tat einen Sprung und saß wieder oben auf der Stange. Katze Wish huschte vorsorglich an das andere Ende.

"Ruhe jetzt!", ging Lucia dazwischen und legte die Papiere, die sie noch immer in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Schreibtisch. "Wir sind nicht zum Krach machen hier!"
"Ganz was neues", murrte das andere Mädchen und rieb sich die unfreiwillig einer Akupunktur unterzogenen Teile ihres Körpers.
"Also", begann Lucia geschäftsmäßig, ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und überschlug die Beine. "Was liegt an?"

"Setz dich anders hin, du hast nicht die Figur für so was", entgegnete Fräulein Silberschein, dachte aber offensichtlich nach, denn die Worte kamen nicht so spitz wie gewöhnlich.
Lucia verzog beleidigt den Mund. "Ich bin auf Diät."
"Davon sieht man nichts - wie gewöhnlich, Fräulein Schokolade-ist-mein-Grundnahrungsmittel-Sonnentochter", bemerkte Katze Wish und brachte sich rasch in Sicherheit, als Lucia einen Kugelschreiber nach ihr warf. Der Stift prallte von der Gardinenstange ab und landete punktgenau auf dem Nachttisch des Mädchens, direkt neben dem dort liegenden Bleistift auf einem mit wenigen Worten beschriebenen Notizzettel.

"Wie wäre es mit... einem Land in den Wolken? Bewohnt von Engeln, die nicht so sind, wie diese Religion es immer erzählt?", fragte Fräulein Silberschein in die darauf folgende, angespannte Stille.
"Zu kitschig", entschied Lucia innerhalb von Sekundenbruchteilen.
"Ach ja? Was ist daran denn kitschig?", keifte es von oben auf sie herab. "Es kommt auf die Umsetzung an, so was lernt man doch im ersten Jahr, nicht auf die Idee."
"Dann ist halt die Idee schlecht. Es gefällt mir jedenfalls nicht!", beschloss Lucia und verschränkte auch noch die Arme.
"Lass das, Mädchen! Oder nimm ab!", nörgelte Katze Wish.
"Und du denkst, dass deine Ideen besser sind? Da bin ich ja mal gespannt!", höhnte das Fräulein zurück und legte den glitzernden Ausdruck bodenloser Arroganz in ihre Augen.
"Erzähl du mir nichts vom Abnehmen!", fauchte Lucia.
"Eure Ideen sind beide nur für den Datenvernichter geeignet...", murrte Katze Wish und zerfetzte die Tapete.
"Ach ja? Geh doch Mäuse jagen, du überdimensionales Pelzknäuel!" Fräulein Silberschein schubste sie von der Stange.
"Deine Ideen handeln immer nur von Mäusen, Ratten und Goldfischen in kleinen runden Gläsern mit einer Schatztruhe als Spielzeug", meinte Lucia finster.
"Seit wann kommen in meinen Ideen Mäuse vor?", kreischte das andere Mädchen entsetzt und fiel beinahe erneut auf die Fensterbank.
"Was hast du gegen Goldfische?", fauchte es beleidigt vom Kissen des Mädchens aus.
"Uhm...", kam es irgendwo aus den Tiefen der Bettdecke.

Mit einem Schlag herrschte wieder Stille im Zimmer. Lucia sah panisch zum Bett hinüber, Fräulein Silberschein hatte sich verschluckt und unterdrückte mühsam ein Husten, Katze Wish hatte sich mit ihren Krallen in den Haaren des Mädchens verfangen und versuchte in Zeitlupe, sich zu befreien.
"Weg hier, und zwar schnell, sie wacht auf!", wisperte Lucia nach Augenblicken der atemlosen Stille.
"Was du nicht sagst...", murmelte Fräulein Silberschein, schwang sich von der Stange und direkt aus dem Fenster hinaus. Katze Wish folgte Sekundenbruchteile später mit einem finsteren Fauchen. Lucia beeilte sich, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatten.

"Schneller, du Schokolade vernichtende Tonne von einem Mädchen!", schwebte eine Stimme durch das Fenster.
Lucia hatte keine Zeit, sich über die Anrede zu beschweren. Sie hechtete durch das Zimmer, stieß sich von der Fensterbank ab und landete unten in den Rosenbüschen, noch ehe das Mädchen die Augen komplett geöffnet hatte und sich über die Stimmen wundern konnte, die sie glaubte gehört zu haben.

"Au...", wimmerte Lucia.
"Willkommen in meiner Welt", kommentierte Fräulein Silberschein, die sich eine Handbreit über den Büschen an den Efeuranken der Hauswand festgehalten hatte. Katze Wish klammerte sich an ihren Rücken. "Runter da, Pelzknäuel! Ich habe genug Löcher im Rücken... und du ruinierst mein Kleid!"
"Diese weißen Fetzen nennst du Kleid?", fragte Katze Wish trocken und machte einen eleganten Satz auf den Boden, wo sie in Seelenruhe begann, ihre ohnehin sauberen Pfoten zu putzen - jedenfalls solange, bis Lucia sie im Nacken packte und auf ihre Augenhöhe anhob.
"Wie hast du mich vorhin genannt?", fauchte sie.
Katze Wish legte den Kopf schief. "Lucia, Schätzchen, erstens habe ich die reine Wahrheit gesagt, und zweitens braucht dich das im Moment nicht zu kümmern."
"Und warum nicht?", fragte die Angesprochene zuckersüß und schüttelte einmal kräftig.
"Halt!", kreischte die Katze. "Mein Abendessen kommt mir wieder hoch, halt an! - Du wahnsinniges, verfressenes Etwas von einer Fee, wenn du das noch einmal machst, dann..."
"Warum nicht?", wiederholte Fräulein Silberschein neugierig Lucias Frage.
Katze Wish fauchte und hieb nach den Händen aus, woraufhin Lucia sie fallen ließ. Mit verengten Augen sah sie zu den beiden Mädchen hoch, bevor ihr Blick bei Lucia hängen blieb. "Bei deiner unsachgemäßen und, wie ich meine, reichlich uneleganten Flucht aus dem Zimmer da oben", sie deutete vage die Richtung an, "hast du Trampeltier den Stapel Zettel neben dem Fenster mitgerissen! Sieh dich mal um!"

"Lucia..."
"Ich sehe es", rang sie verzweifelt die Hände und strich sich mit allen zehn Fingern die schwarzen Haare aus der Stirn. "Helft mir, schnell! Zum Glück ist sie so ordentlich und nummeriert ihre Zettel, zumindest die großen..." Hastig begann sie, Papier aus den Rosenbüschen und von der Erde aufzusammeln. Fräulein Silberschein versuchte im Halbdunkel die Nummern an den Seitenenden zu erkennen und brachte die Zettel wieder in die richtige Reihenfolge.
"15, 16... hier ist Nummer 22..."
"12!", triumphierte Katze Wish von irgendwo unter den Büschen.

"Haben wir alles?", fragte Lucia atemlos.
"Nein, die Nummer 19 fehlt", entgegnete Fräulein Silberschein stirnrunzelnd, tat einen Satz und legte die Zettel lautlos zurück auf ihren Platz im Zimmer des Mädchens. Mit einem ebenso eleganten Sprung landete sie wieder neben den beiden anderen. "Der Wind muss ihn weggetragen haben", vermutete sie, ehrlich besorgt.
"Es ist doch nur ein Zettel", murrte Katze Wish. "Lasst uns gehen!"
"Nein!", riefen Lucia und Fräulein Silberschein gleichzeitig.

"Das können wir nicht machen, Wish, das lernt man doch im ersten Jahr... wenn so ein Absatz einmal weg ist, kriegt man ihn niemals wieder so gut geschrieben... außerdem standen auf dem Zettel wer weiß wie viele Ideen! Sie kritzelt ihre Einfälle doch überall hin...", antwortete Fräulein Silberschein. "Du weißt, dass die Ältesten denken, dass sie Schriftstellerin werden könnte mit ihren Geschichten. Wenn diese Ideen verschwinden... wer weiß, was dann passiert? ... Wir müssen diesen Zettel finden. Danke, Lucia, ich hatte mich schon auf einen schönen Abend gefreut!", fügte sie finster hinzu.
"Wer hat denn mit dem Lärm angefangen?"

"Schluss jetzt. Der Wind kommt von dort, also müssen wir in der Richtung suchen", ging Katze Wish dazwischen und sauste los, die Straße entlang in Richtung Fluss. Fräulein Silberschein folgte ihr nach kurzem Zögern. Schlussendlich lief auch Lucia Sonnentochter widerwillig los.

"Wartet... wartet... auf mich...", keuchte sie drei Stunden später.
Sie war Fräulein Silberschein und der Katze Wish gefolgt, so schnell sie konnte. Sie war zweimal gestürzt und hatte sich die Knie aufgeschürft, ihr gelbes Kleid war zerrissen, sie war zweimal in den Flussauen gestürzt und von oben bis unten nass, die Mücken fanden großen Gefallen an ihr und sie bekam keine Luft mehr. Grund genug für eine Pause.

"Beweg dich gefälligst! Los, hoch mit dir!", sagte Fräulein Silberschein ungeduldig und trat einen Schritt näher zu der Bank, auf der Lucia sich niedergelassen hatte. "Bewegung wird dir gut tun - besonders deiner Figur", setzte sie mit einem fiesen Grinsen hinzu. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ließ Lucia auf der Bank zurück. Sie spürte den zornigen und auch traurigen Blick in ihrem Rücken nicht.

Nachdem Lucia wieder etwas zu Atem gekommen war, stand sie auf, unschlüssig, ob sie den anderen beiden folgen sollte. Eigentlich verspürte sie nicht die geringste Lust, dies zu tun. Die beiden hatten sie in diesen Schlamassel gebracht, hatten nichts besseres zu tun, als sie aufzuziehen und konnten nicht einmal auf sie warten... wiederfinden würde sie die beiden vermutlich auch nicht...
Unentschlossen ging sie hinab zum Rheinufer, warf einen Blick auf die fast spiegelglatte Wasseroberfläche und seufzte verzweifelt. "So schlimm ist es doch gar nicht!", murmelte sie und betrachtete ihre Figur. "Höchstens zwei, drei Kilos zu viel... und nur weil alle anderen Mädchen gertenschlank sind, bin ich doch noch lange nicht zu dick..." Sie brach ab und versuchte die brennenden Tränen in ihren Augen zu unterdrücken.
"Hey, nicht doch!", gurgelte Flussfrau Salomé sofort. Wie sie es schaffte, immer genau dort zu sein, wo Lucia gerade war, war der jungen Fee ein Rätsel.
"Aber sie haben doch recht! Und ich schaffe es einfach nicht, abzunehmen... vielleicht sollte ich...", überlegte Lucia und wischte sich die Tränen fort.

"Gar nichts solltest du!", ging Flussfrau entschieden dazwischen - zwischen ihre unausgesprochenen Gedanken. "Du bist ein hübsches Mädchen, Fräulein Sonnentochter, und du bist lieb und mitfühlend und machst deine Aufgabe gut. Was willst du mehr? Warte, lass mich dein Kleid flicken, so kannst du doch nicht herumlaufen, das passt nicht zu dir..." Sprach's, spritzte und kicherte leise.
Lucia war noch durchnässter als zuvor, und zwar dieses Mal mit eiskaltem Flusswasser. Dafür war ihr flatteriges, gelbes Kleid jedoch wieder ganz, stellte sie mit einem Blick nach unten fest, und begann, das Wasser aus dem Rock zu wringen. "Danke", murmelte sie halbherzig.
"Dachte ich mir, dass du meine Hilfe nicht zu schätzen weißt", rauschte Flussfrau beleidigt.
"Nein, nein!", erwiderte Lucia rasch. "Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen, danke, danke vielmals, es ist nur... etwas... kalt", fügte sie leiser hinzu und verschränkte frierend die Arme.

"Nun", platschte der Rhein endgültigen Tonfalls, "du solltest besser Fräulein Silberschein und Katze Wish suchen... aber mach dir nicht so viele Gedanken, falls du den Zettel nicht wiederfinden solltest, es ist nur Papier."
"Es ist nicht nur Papier!", rief Lucia empört. "Dieser Zettel könnte der Grundstein zu ihrer Karriere sein, er könnte..."
"Mädchen", unterbrach Flussfrau Salomé sie kichernd. "Du hast noch sehr viel zu lernen. Und nun ab mit dir, husch!", spritzte sie mit einem erneuten Schwall kalten Wassers. Quietschend sprang Lucia zurück und entschloss sich, dass es besser war, auf Flussfrau zu hören.

"Was ist los? Was starrt ihr denn so...", keuchte sie wenig später und sah Katze Wish sowie Fräulein Silberschein verwirrt an. Die beiden standen schweigend am Rheinufer und starrten auf die dunklen Wellen hinaus.
"Er ist weg", sagte Fräulein Silberschein schließlich langsam. "Der Wind hat den Zettel auf den Fluss hinaus geweht..."
"... und Flussfrau Salomé hat gesagt, die Tinte sei verwaschen - es hätte keinen Sinn, uns den Zettel wiederzubringen", vollendete Katze Wish seltsam bedrückt den Satz. "Und als wir uns darüber aufgeregt haben, sagte sie, dass..."

"... ihr noch viel zu lernen hättet?", fragte Lucia. "Das sagte sie mir auch." Sie fragte sich, wie Flussfrau Salomé so schnell... sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Es gab Wesen, bei denen sich das Fragen und Nachdenken einfach nicht lohnte. Flussfrau Salomé stand an zweiter Stelle auf der Liste dieser Wesen, gleich nach...

"Wie Recht sie damit hatte", seufzte eine belustigte Stimme irgendwo über ihnen. Die Mienen der Drei verfinsterten sich mit Lichtgeschwindigkeit.
"Was hast du hier verloren? Arbeitest du eigentlich auch manchmal oder besteht dein Leben darin, uns auf die Nerven zu gehen?", fauchte Fräulein Silberschein in Richtung eines großen Astes im nächsten Baum.
"Na, na, Lilia, warum denn so angespannt? Angestaute Aggressionen?"
Selbst durch die Dunkelheit konnten die Drei sein unglaublich provozierendes Grinsen sehen. Wahrscheinlich hätte er in diesem Zustand eine Banane quer verschlucken können.

"Komm du mir hier herunter, Nichtsnutz, dann zeig ich dir, wie ich meine angestauten Aggressionen vorzugsweise los werde!", kreischte Fräulein Silberschein und stapfte los in Richtung des Baumes. Katze Wish folgte ihr auf dem Fuße, während Lucia Sonnentochter schluckte und kurz an ihr leicht angematschtes Äußeres dachte, ehe sie den beiden folgte.

Traumtänzer hockte in einer Eiche, in einer Haltung, bei der jeder andere schon längst das Gleichgewicht verloren hätte. Er wahrscheinlich auch, aber im Gegensatz zu anderen hatte er zwei Paar Flügel, die ihn in dieser unmöglichen Position hielten. Und im Gegensatz zu anderen hatte er meistens an jedem Finger eine Verehrerin kleben. Umso ungewöhnlicher war es, dass heute keine kichernde, giggelnde, sich schminkende Fee in der Nähe war, und dieser unverschämt gut aussehende und charismatische Junge ganz alleine hier zu sein schien.

Aber das, was an ihm wirklich schlimm war, war die Tatsache, dass er sich seiner Wirkung auf junge Feen voll und ganz bewusst war. Mit einer jahrelang trainierten, lässigen Geste strich er sich schwarze, kinnlange Haarsträhnen aus den neckisch funkelnden dunklen Augen und grinste unverändert auf die drei hinab - etwas, womit er speziell Fräulein Silberschein in den Wahnsinn zu treiben vermochte. Katze Wish war gegen seine Spielereien meistens immun, und Lucia... nun, Lucia mühte sich damit ab, ihn nicht anzustarren. Sie hatte ihn bis jetzt immer nur bei Tag gesehen, weiß gekleidet, mit silbernem Haar und durchscheinenden Augen.

‚Schwarz steht ihm entschieden besser', wisperte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf.
‚Ruhe dahinten!', dachte sie und konzentrierte sich lieber wieder auf den Schlagabtausch zwischen ihm, Fräulein Silberschein und mittlerweile auch Katze Wish.
"Falls es euch interessiert...", begann Traumtänzer grad wie beiläufig.
"Tut es nicht!", fielen die beiden ihm lauthals ins Wort.
Er zuckte, unverändert amüsiert, mit den Schultern. "Dann eben nicht", antwortete er. Sein Blick huschte kurz zu Lucia hinüber, und aus dem unverschämten Grinsen wurde ein Lächeln, ein richtiges, kaum noch aufziehendes Lächeln. "Du bist wirklich zu bedauern, mit diesen beiden Kumpaninnen, Fräulein Sonnentochter", meinte er und verlagerte auf seinem Ast leicht das Gewicht.

Die Eingebung kam Lucia plötzlich, sie wusste nicht, woher.
"Du weißt, was auf dem Zettel stand, nicht wahr?", fragte sie, erstaunt über die Ruhe, mit der sie es tat.
Er lächelte weiterhin und deutete ein Nicken an. Seine Flügel, vorher ausgestreckt, um die Balance zu halten, begannen leicht zu flattern, schimmerten und leuchteten in allen möglichen und unmöglichen Farben des Regenbogens durch die angrenzende Nacht. Dann tat er einen Satz und landete leicht vor ihnen auf dem Boden.
"Nun red schon!", presste Fräulein Silberschein hervor und versuchte - zum ungefähr fünfhundersten Mal - ihn mit bloßen Blicken zu ermorden.

Traumtänzer jedoch zuckte nur mit den Schultern und spazierte lässig zum Flussufer hinab. "Warum sollte ich? Es ist nur ein Zettel gewesen", rief er über eine Schulter.
"Es war nicht nur ein Zettel, das weißt du ganz genau, er war voll mit...", begann Katze Wish und huschte hinter ihm her.
"... Ideen, die der Grundstein zu der Karriere dieses Mädchens sein könnten, ich weiß, das hat Fräulein Sonnentochter vorhin auch schon gesagt", wiederholte er die Worte Lucias an Flussfrau Salomé.

"Du hast uns beobachtet? Du hättest den Zettel jederzeit fangen können, du... na warte!", rief Fräulein Silberschein und sprintete ihm hinterher. Angesichts ihrer beinahe Funken sprühenden Augen schien Traumtänzer es für sicherer zu halten, sich auf Abstand zu begeben, und flog ein paar Meter in die Luft. Seine Regenbogenflügel bewegten sich so schnell, dass sie beinahe nicht mehr zu sehen waren. Melonengroße, schillernde Seifenblasen gingen von ihnen aus und erfüllten die Nachtluft mit den verschiedensten Düften - Rose, Lavendel, Honig und Zimt waren die wenigen, die Lucia identifizieren konnte.

"Hey, nur die Ruhe, Lilia", meinte er einlenkend und sah Lucia wieder an. Das Lächeln war von seinem Gesicht fast gänzlich verschwunden. Statt dessen blickten seine Augen ernst, etwas, dass sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Es war nicht seine Aufgabe, ernst zu sein. Er war Traumtänzer, er hatte zu lachen und zu scherzen und andere in den Wahnsinn zu treiben.

"Fräulein Sonnentochter", begann er. "Es war nur ein Zettel. Ihr habt das Prinzip nicht verstanden, noch nicht. Aber das tun nur die wenigsten in eurem Alter, die zur Schule gehen und lernen, dass jede Idee wertvoll sein kann - ich sage nicht, dass sie dies nicht ist", fügte er rasch hinzu. "Aber... diese Leute, die Geschichten schreiben, die zu Büchern werden, bei denen man das Gefühl hat, sie spielen mit Worten wie andere mit Farben oder Tönen oder Zahlen, meinetwegen... diese Leute sind Kinder. Egal wie alt sie sind, sie sind tief in sich Kinder geblieben. Nur deshalb können sie Dinge schreiben, Worte wie Flügel und all diese Träume zu Papier bringen. Wenn sie tief in sich drinnen erwachsen werden, wenn sie zu träumen verlernen und mich nicht mehr in sich hineinlassen, dann ist es vorbei. Dann werden sie niemals mehr so schreiben können wie früher. Aber solange sie Kinder sind, sind ihre Köpfe so voller Ideen, dass es auf einen Zettel nicht ankommt. Sie träumen immer weiter, ärgern sich vielleicht darüber... aber sie träumen, sie ärgern sich, sie fühlen, freuen sich über Märchenfilme und verzierte Eisentore, über Rosenranken und Zeichentrickserien und über schöne Musik, freuen sich über ihre Träume - und darauf kommt es an. Nicht auf ein simples Stück Papier."
Er hielt inne.

Lucia musste sich zusammenreißen, um ihn nicht offenen Mundes anzustarren. Niemals hatte sie Traumtänzer so lange und so gewichtig reden hören - und niemals hatte sie mehr Wahrheit in seinen Worten vernommen. Sie nickte langsam, begreifend, und fragte sich plötzlich, wie jemand, der so unmöglich war, solche Gedanken haben konnte und so sehr von ihrer Wahrheit überzeugt war. Sie wusste, wenn sie ehrlich war, nicht einmal, was er eigentlich tat, wusste nur, dass er immer nachts und bei manchen, besonderen Menschen auch mehr oder weniger oft tagsüber in die Herzen und die Seelen schlich und dort zu Träumen lehrte - so hatte sie gedacht.

Er schien ihre Gedanken zu erraten und schüttelte leicht den Kopf.
"Ich lehre nicht, ich wache nur", meinte er leise. "Und versuche zu verhindern, dass diese Menschen erwachsen werden. Es geht soviel verloren, wenn sie zu glauben beginnen, dass Träume und Fantasie etwas für Kinder sind, soviel Verständnis. Erwachsenwerden bedeutet das Ende der Unschuld und des Staunens, und es ist... traurig zu sehen, wie sehr diese Leute davon überzeugt sind, dass es gut für sie ist, obwohl sie jeden Tag etwas mehr sterben, wenn sie aufhören zu träumen, und obwohl die Welt mit jedem Kind, dass nur noch Gewalt und Zorn kennt, und mit jedem Menschen, der nicht mehr innehalten kann um den Regenbogen zu sehen, und der nicht mehr weiß, wie sich Sommerregen anfühlt und wie es ist, unter freiem Himmel zu liegen und die Gedanken einfach fliegen zu lassen, etwas kälter wird..." Er riss sich sichtlich zusammen.

"Lasst es gut sein", meinte er, wieder an alle Drei gewandt. "Ihr habt noch mehr zu tun in dieser Nacht, oder nicht? Ihr solltet euch vielleicht beeilen, es dämmert schon bald."
Als Lucia ihre beiden Freundinnen anblickte, sah sie, dass die beiden nicht soviel Selbstbeherrschung besessen hatten wie sie und dass sie Traumtänzer wirklich mit heruntergeklappten Kiefern ansahen, selbst Katze Wish. Sie kicherte, und Traumtänzer, der ihrem Blick gefolgt war, lachte leise.

"Nur weiter so, Fräulein Sonnentochter, nur weiter so. Und lass dich von diesen beiden nicht allzu viel ärgern", meinte er lächelnd. "Übrigens, du hast etwas verloren", fügte er hinzu, landete neben ihr und reichte ihr die schmale Goldkette, die sie normalerweise um ihr Handgelenk geschlungen trug. Sie musste sie bei ihrer überstürzten Flucht verloren haben.
"Danke", murmelte sie und errötete leicht, als sie das Lachen in seinen Augen bemerkte.

"Für irgendwas muss ich ja gut sein", bemerkte er, schwang sich erneut in die Lüfte, winkte kurz und war in der Nacht verschwunden. Die Drei starrten noch lange in die Richtung, aus der ab und an immer noch große Seifenblasen herbeischwebten. Minutenlang herrschte Stille.

"Lucia?"
"Hm?"
"Ich glaube, er mag dich."
"Was?"
"Zur Abwechslung glaube ich, dass Fräulein Silberschein Recht haben könnte."
"Von einem mäusefressenden, goldfischbesessenen Pelzknäuel brauch ich keine Zustimmung!"
"Wie kommt ihr nur auf diese Idee?"
"Das ist offensichtlich, Lucia, du hast einfach zu wenig Selbstvertrauen, um dir das einzugestehen, das ist alles."
"Wie hast du mich eben genannt?"
"Aber... aber, du hast doch immer gesagt, ich müsse abnehmen und überhaupt, Lilia, ich weiß nicht, also..."
"Mäusefressendes, goldfischbesessenes Pelzknäuel. Bist du auch noch taub geworden?"
"Diese unmögliche Göre hat Recht, Lucia, wirklich. Wenn du dir die Haare getrocknet hast und ein sauberes Kleid anziehst, bist du wirklich ein niedliches Mädchen. Und vor allen Dingen kein Knochengerüst wie manch andere hier."
"Unmögliche Göre? Knochengerüst?"
"Du siehst aus wie tot und wieder ausgegraben, falls dir diese Beschreibung besser gefällt, Fräulein Silberschein."
"Aber... meint ihr wirklich?"
"Lauf. Lauf schneller."
Katze Wish zog es vor, Fräulein Silberscheins Rat anzunehmen.

Ende

(c) 2005 by Lily

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