Titel: Engel der Nacht

Autor: Lily
Kategorie: Mystery
Rating: ab 12
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Inhalt: Alanna zweifelt an ihrer schweren Aufgabe - ihr Gewissen lässt sich kaum beruhigen...

Engel der Nacht

"Was machst du hier?"
Leichtfüßig sprang Raphael von der Treppe auf das Dach des Hochhauses. Es herrschte die schwarze Finsternis der Nacht, aber er wusste dennoch, dass sie hier war. Denn hier war sie immer, bevor sie ihrer Aufgabe nachgehen musste.
"Alanna?", fragte er noch einmal, als sie nicht antwortete, und setzte sich neben sie auf den Rand des Daches. Unter ihnen floss der Verkehr durch die engen Straßen der Stadt. Rote und weiße Lichter mischten sich mit dem Lärm von Hupen und dem Gestank von Abgasen. Der warme Sommerwind trug alles hinauf zu den beiden, die dort oben saßen und auf das Leben der Menschen hinab sahen.

"Warum nur bist du immer wieder hier oben?", versuchte Raphael es noch einmal. Doch wieder erhielt er keine Antwort. Alanna schaute nur stumm hinab auf die Straßen. Dann hob sie den Kopf und ließ ihren Blick über die Stadt streifen. Sie liebte die hellen Lichter, die durch die Dunkelheit schienen wie die Sterne am Himmel. Sterne, von Menschenhand geschaffen. Wie vieles andere auch, was nicht natürlich war. Die Stadt zählte dazu, doch auch die ungezählten Menschen in ihr, die von der Kunstfertigkeit der Menschen am Leben gehalten wurden. Von Ärzten und Pflegern, von Krankenschwestern und von den Maschinen.

Die Maschinen. Sie waren das wichtigste Glied in der Kette, die diese Menschen vor dem Tod bewahrte. Sie machte es nicht leicht zu entscheiden, wessen Zeit endgültig abgelaufen war. Es war niemals leicht, doch die Maschinen machten es alles noch viel schwerer. Denn die Menschen schienen gesund, fern dem Tod, aber in Wirklichkeit waren sie es nicht. Sie standen schon mit einem Bein im Grab.

"Wir müssen langsam beginnen."
Diese Worte schienen Alanna endlich aus ihrer Trance zu reißen. Mit großen dunklen Augen blickte sie ihn an. "Ist es wirklich nötig?"
Überrascht von dieser Frage zog er die Augenbrauen zusammen. "Ja, natürlich. Was glaubst du, wie es hier aussehen würde, wenn es uns nicht gäbe? Glaubst du, dann gäbe es überhaupt noch Menschen? Ihre Existenz wäre schon lange beendet, wenn es uns nicht geben würde. Sie hätten sich gegenseitig ausgelöscht."

Alanna dachte über seine Antwort nach. Es war ihr zuwider, diese Aufgabe, die sie erfüllen musste, jede Nacht aufs Neue. Das war es schon immer gewesen. Doch mit der Zeit hatte sie begriffen, dass kein Weg daran vorbei führte. Wie ihre Freundin und Lehrerin Tara ihr gesagt hatte... was geschehen muß, muß geschehen. Früher oder später, aber am Ende... gleich, wie lange du zögerst, am Ende macht es alles nichts mehr. Am Ende ist alles gleichgültig.

Lange Konflikte in langen Jahren hatte Alanna hinter sich, doch sie spürte, wie ihre Skrupel mit der Zeit mehr und mehr verschwunden waren. Sie gewöhnte sich daran. Eine Weile hatte ihr das Angst gemacht, doch auch das war mittlerweile vorbei. Nur manchmal, in Nächten wie diesen, wenn die Welt sich fortbewegte im warmen Wind des Sommers, der die Nächte durchzog, brachen die alten Zweifel manchmal noch durch. Aber Tara war nicht da, um ihr zu helfen. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt und ein neues Leben begonnen, hatte ihren Schützling zurückgelassen in dem Wissen, dass sie es alleine schaffen würde, dass sie stark genug sei.

Und Alanna wollte sie nicht enttäuschen. Trotz allem blieb eine kleine, versteckte Angst in ihrem Inneren, wie eine winzige Schramme, die nicht heilen wollte und von Zeit zu Zeit wieder aufbrach. Die Angst, dass eines Tages die Zeit von Taras neuem Leben ablaufen würde. Und dass sie, Alanna, es sein müsste, die ihr die Kraft zum Atmen nahm und ihr den Tod brachte.

"Du denkst an Tara, nicht wahr?"
Alanna nickte. Raphael konnte schon immer ihre Gedanken lesen. Er legte einen Arm um sie. "Mach dir jetzt noch keine Gedanken darüber. Es ist noch ein Leben hin. Und auch wenn die Menschen sterblich sind, ist es dennoch eine lange Zeit, selbst für uns. Ein ganzes Leben."

"Ein ganzes Leben. Das ist es, woran ich immer denken muß, wenn ich ein solches auslösche. Wenn ich die Menschen sehe... besonders die Kinder. Wenn ich ihr Leben sehe, und was sie noch alles hätten tun können... wie sie noch hätten leben können... und ich mache all ihre Hoffnungen und Wünsche, Möglichkeiten und Chancen zunichte, auf einen Schlag, unwiderrufbar."
"Es ist unsere Aufgabe. Sie hat ihren Sinn, auch wenn du es noch nicht verstehen kannst, Schwesterchen... wir müssen gehen. Es gibt viel zu tun."

Raphael stand auf und zog Alanna mit sich hoch. Sie schien sich wieder einigermaßen gefasst zu haben. Die Wunde schmerzte nicht mehr, das Blut hatte die Sorgen heraus gespült. Sie war auf dem Weg der Heilung.
Als Alanna kurz darauf in einem Krankenhaus stand, vor dem Bett eines kleinen Mädchens, das dort lag, angeschlossen an unzählige Maschinen und Apparate, neben ihm die weinenden Eltern, spürte sie nicht mehr, dass sie einmal dort gewesen war.

Sie fragte sich für einen winzigen Sekundenbruchteil, was die Eltern und Schwestern und Ärzte wohl tun, denken oder sagen würden, wenn sie sie sehen könnten. Doch Menschen konnten sie nicht sehen. Und wahrscheinlich war es auch besser so, für beide Seiten. Es ersparte Kummer, unnötigen Kummer. Es war besser, wenn man die Engel des Todes nicht sah, wenn sie ihrer Aufgabe nachgingen.

Ende

(c) 2003 by Lily

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