Titel: Eine Blume am Heiligen Abend

Autor: Catreena
Kategorie: Romantik
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Inhalt: Eine alte Frau erinnert sich an die Liebe ihres Lebens.

Eine Blume am Heiligen Abend

Zittrige Hände griffen nach dem vergilbten alten Foto. Sorgsam strichen die Finger darüber, versuchten, die verknitterten Ecken gerade zu streichen. Beinahe zärtlich fuhr der Blick über das Antlitz des jungen Soldaten auf dem Bild. Schließlich hob die alte Frau den Kopf und reichte das Bild an ihre Enkeltochter weiter. "Das ist er, Leah, das ist meine große Liebe." Leah nahm das Foto vorsichtig entgegen und betrachtete es neugierig. "Es ist alles, was ich von ihm habe", fügte die Großmutter noch hinzu. Leahs Blick fuhr über die heiteren, fröhlichen Gesichtszüge des Mannes auf dem Foto. "Erzähl mir von ihm, Oma, bitte!", bat sie leise. Die alte Frau lehnte sich in ihren Sessel zurück und schloss die Augen, dann begann sie zu erzählen: "Ich war damals so alt wie du, Leah, 22 Jahre alt ..."

Es war der Heilige Abend, 1943. Monoton heulte die Sirene auf dem Dach des Krankenhauses, kündete die nahenden Flugzeuge an. Maria ließ sich davon nicht beeindrucken, sie war das bereits gewöhnt. Die 22jährige war Krankenschwester einer Militäreinheit, und bereits seit Wochen half sie nun schon in diesem Dresdner Krankenhaus aus. Die Stadt erlebte Tag für Tag heftige Bombardements, und die Opfer unter der Zivilbevölkerung waren so hoch, dass die Ärzte und Krankenschwestern mit der Arbeit überfordert waren.
Mit ruhiger Stimme sprach Maria mit dem verängstigten kleinen Mädchen, während sie ihre Verbände wechselte. Tränen liefen über das Gesicht der Kleinen, und trotz der Hektik nahm sich Maria die Zeit, sich noch einmal an ihrer Seite niederzulassen und ihr liebevoll über die Wange zu streichen. "Hab keine Angst, kleine Prinzessin, die Sirene hört gleich auf und dann kannst du weiter schlafen!", flüsterte sie.
Plötzlich übertönte ein ohrenbetäubender Knall die Sirene. Der Boden bebte, die Wände zitterten, Fensterscheiben zerbrachen. Brandgeruch stieg Maria in die Nase. Schreie klangen über den Flur. Das kleine Mädchen hatte vor Schreck aufgehört zu schluchzen, ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Marias Herz schlug heftig, als sie begriff, dass das Krankenhaus von einer Bombe getroffen sein musste.
Erneut strich sie dem Mädchen über die Wange, zog ihre Decke hoch und wickelte sie sorgsam darin ein. "Ich komme gleich zurück, kleine Prinzessin - hab keine Angst!" Dann erhob sie sich und trat rasch auf den Flur hinaus. Menschen liefen hin und her, Kinder schrien, Frauen weinten. Ärzte eilten von einem Zimmer zum anderen, Krankenschwestern liefen mit Verbandszeug umher. Und dazwischen rannten Soldaten zum Ende des Ganges, wo dicker Qualm hervor drang.
"Wir räumen das Krankenhaus", drang ein Ruf durch den Gang. Maria machte auf dem Absatz kehrt, eilte in das Zimmer zurück und nahm das Mädchen mitsamt der Decke aus dem Bett. Sie drückte das Kind fest an sich, während sie den anderen Patienten half, aus ihren Betten aufzustehen. Dann ging sie voraus, verließ das Krankenzimmer und führte die kleine Gruppe von Menschen durch das auf dem Gang herrschende Gewirr.
Ein junger Soldat kam ihr entgegen, wollte ihr das Mädchen abnehmen, doch die Kleine klammerte sich an Maria fest. "Wohin?", fragte Maria knapp. "Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird in einer Schule gerade ein Notlazarett eingerichtet. Kommen Sie mit!" Er legte seine Hand auf Marias Arm und führte sie die Treppe hinunter und über die Straße. In der Schule herrschte kaum weniger Chaos als im Krankenhaus. Maria legte das Mädchen auf die erstbeste Trage und sorgte dafür, dass eine andere Krankenschwester bei ihr und den anderen Patienten blieb, dann lief sie wieder auf die Straße zurück.
"Halt, wohin wollen Sie denn?" Der junge Soldat war ihr gefolgt und hielt sie nun am Arm fest. Maria wandte sich um und blickte ihn an. Trotz der angespannten Situation nahm sie die vorwitzigen blonden Strähnen wahr, die unter seinem Helm hervor lugten, die vorwitzigen blauen Augen, die sie aufmerksam anblickten, und das leicht charmante Lächeln, das auf seinen Lippen lag. "Ich muss helfen", antwortete sie. Sie wandte sich um und erstarrte, als sie das Gebäude des Krankenhauses sah. Eine Hälfte war eingestürzt, aus den Trümmern loderten Flammen hervor. Nahe der Einsturzstelle strömten Menschen aus der weit geöffneten Eingangstür.
Sie spürte erneut die Hand des Soldaten auf ihrem Arm. "Ich helfe Ihnen!" Gemeinsam liefen sie los, kämpften sich durch die in Panik fliehenden Patienten ins Innere des Krankenhauses.
Als die Nacht über Dresden hereinbrach, war das Krankenhaus vollständig geräumt. Seufzend ließ sich Maria auf der Treppe vor dem Eingang der Schule nieder, betrachtete, wie der Schnee die letzten Flammen des zerbombten Krankenhauses löschte. Sie wusste nicht, wie viele Menschen heute gerettet worden und wie viele unter den Trümmern begraben lagen. Wieder spürte sie die Wut in sich, spürte die brennenden Tränen, gegen die sie immer anzukämpfen hatte, wenn sie Tag für Tag all die Verletzungen und den Tod mit ansehen musste.
"Ist Ihnen nicht kalt?", vernahm sie eine Stimme. Sie blickte auf. Hinter ihr stand der Soldat, der ihr die ganze Zeit geholfen hatte. Sie schüttelte den Kopf, aber ihre blauen Lippen verrieten ihm, dass sie log. Wortlos zog er seine Uniformjacke aus und legte sie Maria um die Schultern, dann setzte er sich neben sie auf die Stufe.
Eine Weile saßen sie schweigend dann, dann hob Maria langsam den Kopf und blickte den Soldat neben ihr an. "Danke ..." Sie wollte noch mehr sagen, wollte einem inneren Impuls folgend all ihren Kummer loswerden, die Wut hinausschreien, die Verzweiflung aussprechen, doch ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Der Soldat erwiderte ihren Blick und nickte. Er verstand ihre stummen Worte.
Wieder schwiegen sie eine Weile, blickten einander nur an. Da lächelte er plötzlich, und mit leiser Stimme sagte er: "Sie sind wie eine Blume, die sich am Ende des harten Winters als erste durch den Schnee schiebt und ihre Blüte öffnet. Sie geben Hoffnung auf ein Ende des Leids, auf eine bessere, schönere Zeit." Maria sah ihn erstaunt an, doch der junge Soldat nahm ihre Hand und strich mit dem Daumen über den Handrücken. "Hören Sie nicht auf, Hoffnung zu spenden, die Menschen brauchen das", fügte er noch hinzu.
Marias Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, er müsste es hören können. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen und zauberte ein charmantes Lächeln auf das Gesicht des Soldaten. Noch immer ließ er ihre Hand nicht los. "Und auf welchen Namen hört diese wunderschöne Blume?", fragte er. Leise wisperte sie die Antwort: "Maria!" Nun lächelte er noch mehr: "Wir sind vom Schicksal füreinander bestimmt - mein Name ist Josef!" Röte überzog Marias Wangen, doch dann lachte sie - leise und perlend. Das Eis war gebrochen.
Die ganze Nacht saßen sie auf der Treppe und redeten. Sie vergaßen die Kälte, die Bomben, die Toten und Verletzten - für wenige Stunden gab es nur die beiden. Als der Himmel sich am frühen Morgen wieder aufhellte, kannte Maria alle Bubenstreiche von Josef und seinen Brüdern, und Josef wusste, dass Maria am liebsten böhmische Knödel aß.
Schritten hallten hinter ihnen, Soldaten drängten sich an ihnen vorbei. "Komm, Josef, wir müssen los", murrte einer verschlafen. Josef erhob sich rasch, dann reichte er Maria die Hand und half ihr galant beim Aufstehen. Sie stand vor ihm und sah zu ihm auf, ihre Blicke trafen aufeinander und verharrten. Er ließ ihre Hand los und strich sanft über ihre Wange. "Wirst du auf mich warten, Maria?", wisperte er kaum hörbar. Seine Worte ließen ihr Herz aufblühen. Wieder überzog Röte ihre Wangen. Sie blickte ihm unentwegt in die Augen und nickte. "Versprich, dass du zurück kommst!", antwortete sie ebenso leise.
Langsam beugte sich Josef vor, bis seine Lippen ihre Stirn hauchzart berührten. "Ich verspreche es", murmelte er. Seine Lippen glitten tiefer, über ihre Augen, ihre Nase bis zu ihren Lippen.
Als anständiges Mädchen hätte Maria ihn wegstoßen und ohrfeigen müssen für die Frechheit, die dieser Soldat sich herausnahm, doch sie hörte auf ihr Herz. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl von Wärme und Zuversicht, das sein Kuss in ihr auslöste. Sie merkte kaum, wie sie die Arme um seinen Nacken schlang und sich tiefer in den Kuss sinken ließ.

"Ach, wie romantisch", seufzte Leah und sah ihre Großmutter mit verklärtem Gesichtsausdruck an. "Das ist ja so schön!" Maria lächelte nur. Für einen Moment lang war sie in jene Nacht zurückgekehrt - eine Nacht, die so vielen Menschen den Tod und ihr die Liebe gebracht hatte. Sie sah sich wieder auf der Treppe sitzen, in eine Soldatenjacke eingewickelt, mit geröteten Wangen, klammen Fingern und Schneeflocken im Haar. Sie hörte sein Lachen, seine Stimme, die vielen leisen Lieder, die er ihr vorgesungen hatte ... "Und ist er zu dir zurückgekommen, Oma?" Leahs ungeduldige Frage holte Maria in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte und sah dann in das neugierige Gesicht ihrer Enkelin. "Es war Krieg, mein Kind - so viele kehrten nicht mehr zurück!" Leah stockte der Atem. "Ist er ...?" Doch Maria schüttelte rasch den Kopf. "Nein, er zählte zu den Glücklichen, die diesen grausamen Krieg überlebt haben. Er wurde schwer verletzt, aber er hat überlebt!" Sie stand auf und trat ans Fenster. "Er hat mir viele Briefe geschrieben, beinahe jeden Tag, doch die meisten kamen erst Wochen oder Monate später an. Manche erreichten mich auch gar nicht. Ich bat ihn um ein Bild und er sendete mir dieses ..." Sie deutete auf das Foto in Leahs Händen. Wieder war Leahs Blick gefesselt von dem Antlitz des jungen Mannes. "Hast du diese Briefe nicht mehr, Oma? Du sagtest, dieses Bild wäre das einzige, was du noch von ihm hast!" Traurig schüttelte Maria den Kopf. "In den Wirren der letzten Kriegstage verlor ich all meine Habseligkeiten, darunter auch das Kostbarste - Josefs Briefe." "Und wann hast du ihn wieder gesehen?"

Es war der Heilige Abend, 1945. Gegen Mittag hatte es angefangen zu schneien, und das Auffanglager Dornstadt glänzte in weißer Pracht. Jetzt, sieben Monate nach dem Ende des Krieges, leerten sich die Baracken allmählich. Vielen Familien waren in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Andere, die hier vergeblich auf die Rückkehr ihrer Ehemänner und Väter gewartet hatten, wagten nun den Neuanfang. Nur noch wenige, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, harrten weiter im Auffanglager auf.
Zwei Tränen liefen über Marias Wangen. Sie blickte in die Augen, die sie so liebte, auf das Lächeln, welches ihr Herz so berührte. "Du hast es versprochen, Josef", flüsterte sie leise. "Ich habe auf dich gewartet, und du hast versprochen zurückzukommen. Genau heute vor zwei Jahren. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, und jetzt ..."
Ein Klopfen unterbrach Marias Gedanken. Eine Stimme ertönte hinter der Tür: "Maria, komm rasch, ein neuer Bus ist eben angekommen!" Rasch schob Maria das Foto wieder unter das Kopfkissen auf ihrer schmalen Pritsche, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und griff nach ihrer Jacke. Sie riss die Tür auf und rannte über den Flur, noch während sie sich in die dicke Jacke einwickelte.
Anfangs waren täglich mehrere Busse mit Soldaten und Flüchtlingen hier im Lager angekommen, doch nun kamen nur noch einige Busse in der Woche, die freigelassene Gefangene aus Russland brachten. Bei jedem ankommenden Bus hatte Maria ihren Blick durch die Reihen der Gesichter streifen lassen, auf der Suche nach dem einen, den sie sehnlichst erwartete, doch nie war er dabei gewesen. Es war schwer, noch an seine Rückkehr zu glauben, doch ein neuer Bus bedeutete neue Hoffnung.
Routiniert begrüßte Maria die Ankömmlinge, trug ihre Namen in eine Liste ein und wies ihnen eine Baracke zu. Kurz hob sie den Kopf, sah den Männern in die Augen, lächelte und blickte wieder auf ihren Block. "Maria, komm doch mal her!" Doktor Feldners Stimme drang durch die Dämmerung. Sie drückte ihren Block einer heran eilenden Kollegin in die Hand, warf einen letzten Blick auf die Reihe wartender Soldaten, dann lief sie über den Platz zum Lagerarzt.
Neben dem Arzt stand ein junger Mann, den Arm unter der Jacke in einer Schlinge verborgen. Doktor Feldner hatte den Ärmel des Verletzten hochgeschoben und betrachtete den schmutzigen Verband. "Diese Wunde ist schlecht versorgt worden", sagte er zu Maria, als diese die beiden erreicht hatte. "Bring ihn auf die Krankenstation, reinige den Arm und lege einen neuen Verband an!" Gehorsam nickte Maria. "Jawohl, Herr Oberstabsarzt!" Sie deutete einen kurzen militärischen Gruß an, dann legte sie ihre Hand auf den Arm des Mannes. "Kommen Sie!"
Es war bereits dunkel, als Maria die Baracke, in der sich die Krankenstation befand, wieder verließ. Es hatte aufgehört zu schneien, doch eine knöchelhohe Schneedecke überzog den großen Platz zwischen den Baracken. Aus dem Speisesaal drangen Weihnachtslieder an ihr Ohr. Ihr war nicht weihnachtlich zu Mute, doch ein wenig Abwechslung und die Geborgenheit ihrer Kompanie konnten ihr jetzt nicht schaden. Sie zog die Jacke dichter um ihren Körper und eilte mit flinken Schritten durch den Schnee.
Plötzlich hörte sie das Knirschen von Schnee hinter sich. Sie verlangsamte ihren Schritt, ohne zu wissen, aus welchem Grund. Die Schritte kamen rasch näher, bis sie schließlich unmittelbar hinter ihr waren. Eine Hand berührte ihre Schulter. "Maria!"
Sie erschauderte. Diese Stimme - konnte das wahr sein? War ihre Sehnsucht so groß, dass ihr Geist ihr einen Streich spielte? Oder war er wirklich zurückgekehrt? Langsam wandte sie sich um. Seine warmen blauen Augen strahlten sie an, sein Lächeln sah aus, als wäre er nie im Krieg gewesen. Josef legte seine Hand auf ihre Wange, genau wie vor zwei Jahren. "Oh Maria!", flüsterte er.
Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie griff nach seiner Hand auf ihrer Wange, spürte die Wärme, die von ihr ausging. Es war wirklich wahr, es war keine Einbildung. Er lebte und war zurückgekehrt zu ihr. "Ich ... habe gewartet", stotterte sie, mühsam ein Schluchzen unterdrückend.
Er nickte, dann zog er sie in seine Arme. Zärtlich küsste er die Tränen von ihren Wangen, bevor sich ihre Lippen trafen und sie sich im Kuss von der Sehnsucht der letzten zwei Jahre erzählten. Sie klammerte sich an ihm fest, als fürchtete sie, er würde sich plötzlich in Luft auflösen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder voneinander lösten und in die Augen sahen. "Komm mit!", raunte er, während er nach ihrer Hand griff. Sie nickte und folgte ihm zu einer der leerstehenden, dunklen Baracke. Sie betraten das erste Zimmer, dessen Tür nicht verschlossen war. Eine Laterne erleuchtete den Raum durchs Fenster. In dem spärlichen Zimmer befanden sich lediglich ein Tisch und eine schmale Pritsche.
Es gab ein quietschendes Geräusch, als Josef sich auf der Pritsche niederließ. Er streckte die Hände nach Maria aus und zog sie dann an sich. Sie schlang die Arme um ihn und legte den Kopf auf seine Brust. Zärtlich ließ er seine Finger durch ihre Haare gleiten. "Tag und Nacht habe ich an dich gedacht, Maria", flüsterte er. "Ich habe mich gefragt, wo du bist, ob es dir gut geht. Viel zu selten habe ich Briefe von dir bekommen."
Maria seufzte zustimmend: "Die meisten kamen zurück. Aber ich habe mir genauso Sorgen gemacht um dich, vor allem in den letzten Monaten. Bei jedem neu angekommenen Bus habe ich gehofft, obwohl die Chance verschwindend gering war. Es gibt hunderte solcher Lager - es ist ein Wunder, dass du ausgerechnet hierher gekommen bist."
"Kein Wunder, Schicksal!" Er legte den Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, so dass er ihr in die Augen schauen konnte. "Ich habe es dir ja schon einmal gesagt: Das Schicksal hat uns füreinander bestimmt." Sie lächelte bei dem Gedanken daran. Langsam senkte er seinen Kopf, bis er ihren Atem auf seiner Haut spürte. "Meine wunderschöne Blume", murmelte er, dann küsste er sie zärtlich.
Maria fühlte sich, als würde sie schweben. Sie vergaß in diesem Moment all die Sorgen der letzten Monate, die Leiden, die sie im Krieg gesehen hatte, all die Menschen, die unter ihren Händen gestorben sind - alles war vergangen in einem Augenblick, in dem nur noch die Liebe zählte.
Josefs Kuss wurde leidenschaftlicher, während seine Hände über ihren Rücken glitten und er sie sanft auf die Pritsche vor sich gleiten ließ.

Wieder seufzte Leah, wischte sich verstohlen eine kleine Träne aus dem Augenwinkel, während Maria ihren Tränen freien Lauf ließ. "In dieser Nacht sah und spürte ich ihn zum letzten Mal", sagte sie leise. Leah hob erstaunt den Kopf. "Aber er ist doch zurückgekehrt ... was ist geschehen?", fragte sie. Maria seufzte: "Am nächsten Morgen rückte meine Versorgungseinheit ab. Alles ging so schnell, dass uns kaum Zeit zum Abschied blieb. Einen Tag später wurde ich aus der Armee entlassen. Ich kehrte nach Dornstadt zurück, aber Josef war bereits weg." "Aber ... aber ... hast du denn nicht versucht, ihn zu finden? Hattest du nicht seine Adresse?", ereiferte sich Leah. Maria schüttelte müde den Kopf und setzte sich wieder in ihren Sessel. "Ich hatte seine Adresse, ja, ich habe sie im Auffanglager erfahren. Ich schrieb ihm auch, aber die Briefe kamen ungeöffnet zurück. Also fuhr ich hin, aber alles, was ich fand, war die Ruine eines Bauernhofes. Ich habe noch einige Jahre nach ihm gesucht, aber ..." Sie zuckte mit den Schultern. "Er schien wie vom Erdboden verschluckt." Traurig betrachtete Leah wieder das Foto. "Was er heute wohl macht? Und wo er ist? Fragst du dich das manchmal, Oma?" Maria nickte: "Sehr oft. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich hoffe, er hat eine Familie gegründet, so wie ich auch. Und ich hoffe, dass er mich nicht vergessen hat und vielleicht auch hin und wieder an mich denkt." "Wusste Opa eigentlich von Josef?", wollte Leah nun wissen. Wiederum nickte Maria: "Er half mir sogar bei der Suche nach ihm. Obwohl wir damals schon verheiratet waren und obwohl ihm klar sein musste, dass er seine Frau vielleicht an den Mann verlieren würde, nachdem er sucht - ich fand das sehr bewundernswert von deinem Großvater, Leah! Er war ein guter Mann, und ich bereue keinen Tag an seiner Seite." Ihr Blick fiel auf ein Foto auf dem Kaminsims, das Porträt eines Mannes mit freundlichen Augen und grauen Haaren, in einem schlichten Holzrahmen mit einem Trauerflor. Leah folgte ihrem Blick, betrachtete voller Liebe das Bild ihres Großvaters, dann sah sie ihre Großmutter wieder an. "Wie hättest du dich entschieden, Oma?" Maria schüttelte den Kopf: "Frag nicht, mein Kind, frag nicht!"

Es war der Heilige Abend, 2004. Einer schönen Tradition folgend versammelte sich zu Weihnachten die ganze Familie bei Maria. Fröhliches Lachen schallte durchs Haus, in der Luft lag der unvergleichliche Duft von Kerzen und Bratäpfeln mit Zimt. Geschenke wurde ausgetauscht, die Kinder spielten auf dem Boden, während die Älteren in Erinnerungen schwelgten.
Maria sah zu ihrer Enkeltochter Leah hinüber. Einige Wochen waren vergangen, seit sie ihr von Josef erzählt hatte. Selten hatten sie sich seitdem gesehen, Leah war sehr beschäftigt gewesen. Doch wenn sie ihr in die Augen sah, fand sie dort etwas Neues, etwas, dass vorher nicht da gewesen war: ein Stück Vertrautheit und Dankbarkeit dafür, dass sie in dieses Geheimnis eingeweiht wurde.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Einer der Jungs sprang auf, aber Leah hielt ihm am Arm fest. "Laß Oma zur Tür gehen!", sagte sie. Fragend blickte Maria sie an. "Das ist mein Weihnachtsgeschenk für dich, Oma!"
Maria stand aus ihrem Sessel auf, warf ihrer Enkeltochter noch einmal einen verwunderten Blick zu, dann ging sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter zur Haustür. Langsam öffnete sie die schwere Holztür. Ein Mann stand davor. Sein Haar war silbern, seine Haltung leicht gebeugt, aber seine blauen Augen strahlten hell und glücklich. "Maria!"
Maria starrte Josef ungläubig an. Seine warme Stimme hatte nichts von dem Klang verloren, den sie einst besaß, und die Zärtlichkeit, mit der er ihren Namen aussprach, raubte ihr den Atem. Langsam streckte sie die Hand aus, berühte Josefs Wange, als wollte sie sich vergewissern, dass er wirklich und wahrhaftig vor ihr stand. Er hielt ihre Hand fest, hauchte einen Kuss darauf. "Oh Maria!"

Ende

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