Laurea Earenya

Kapitel 1: Erdbeeren mit Schlagsahne

Wie viele Jahre waren nun vergangen?
Hundert, hundertzwanzig vielleicht, oder mehr?
Jedenfalls viel, viel zu viele jeder Tag dehnte sich zu einer unendlich langen Ewigkeit, wenn man allein war. Nein - allein war das falsche Wort. Unvollständig beschrieb besser, so viel besser, wie er sich fühlte. Zwar waren Freunde bei ihm, immerhin, aber er wusste auch, dass noch jemand kommen musste, über das Meer hierher, in den Westen. Dieses Wissen, dieses ungewisse Ausharren, das war das schlimmste. Ansonsten gab es ja nichts Schlimmes hier, in diesen friedlichen, leuchtenden Landen. Weiße Strände am azurblauen Meer, soweit das Auge reichte, blühende Wiesen und dunkelgrüne Wälder, graue und weiße Berge, umspielt von blauem und silbernen Nebel eine perfekte Welt, ein Leben in ewiger Glückseligkeit, in warmem Sonnenlicht und Sommerwind der Unsterblichen Lande Valinors.
In diesem unendlichen Frieden schien das Warten auf Freunde aus dem Osten als schlimmstes aller Übel. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt kam er nun schon hierher nach Alqalonde, mal mit seinen Freunden, mal alleine und sah hinaus aufs Meer, meistens am Meerestag, Earenya. Er starrte hinaus auf die sanften blauen Wellen, die weißen Wattewölkchen darüber und die aufgehende Sonne, die blasses Morgenlicht auf die weiße Hafenstadt warf, die daraufhin blitzte und strahlte im Glanz ihres Silbers und ihrer Perlen. Er starrte auf das Meer und wartete, an jedem Meerestag, wartete darauf, die schneeweißen Segel eines Schiffes am Horizont zu erblicken und wartete auf das Gefühl, dass das Warten nun ein Ende hatte.
Doch Earenya zog vorüber, jahrelang, ohne dass seine Augen weiße Segel erblickten.
"Warum kommst du noch hierher", sagte eine leise Stimme hinter ihm.
"Ich habe alle Zeitalter dieser Welt vor mir, Gandalf. Warum nicht, ist die Frage. Ich warte, wie du weißt."
"Auf dieses eine Schiff", seufzte Gandalf und setzte sich neben Frodo auf die niedrige Hafenmauer. "Ach, Frodo. Hast du dir nicht schon einmal überlegt, was wäre, wenn..."
"Nein. Darüber denke ich nicht nach. Sie werden kommen. Er wird kommen. Ich glaube nicht daran, dass er in Mandos' Hallen sein könnte und ich werde es nie", erwiderte Frodo mit einer Bestimmtheit, die Gandalf nicht von ihm gewohnt war. Es geschah überhaupt nicht mehr oft, dass Frodo redete. Schon gar nicht über ernste Themen. Nur das übliche, über das Essen von Samweis, über das Leben an sich, über die Reisen, die sie gemeinsam unternahmen. Hin und wieder auch über das Wetter, obwohl das in Valinor sinnlos war. Hobbits eben. Frodo, Samweis und Bilbo konnten über Dinge reden, über die anwesende Elben meistens nur den Kopf schüttelten, während sie leicht genervt den Rauch ihrer Pfeifen beiseite wedelten.
Niemals redeten sie über ernste Themen. Es gab keinen Grund dazu. Zu schön und friedlich war das Leben hier doch jede Woche, an diesem Tag, der den Namen Earenya trug, ergriff Frodo wieder der Gedanke an Mittelerde, die Erinnerung an seine Freunde und das Wissen darum, dass es nur eine einzige Person geben konnte von diesen Freunden, die er jemals wiedersehen würde.
Auf die er hier wartete, im Schwanenhafen Valinors, jeden Tag.
"Herr Frodo, nun sitzt doch nicht so traurig da!", rief Sam, der den Kai entlang gelaufen kam. "Das hat doch keinen Sinn, komm lieber, es gibt Erdbeeren mit Schlagsahne!"
Er versuchte es immer wieder, jeden Tag, doch er wusste genau, dass er Frodo heute erst wieder zum Essen und Lachen bringen konnte, wenn die Sonne im Westen hinter den Bergen versunken war und silberne Lichter im Schwanenhafen aufflammten. Es war jede Woche das gleiche, seit nunmehr hundert und zwanzig Jahren. Samweis hatte genauestens gezählt, denn mit jeder Woche sorgte er sich ein winziges bisschen mehr um Frodo. Wie lange wollte er noch dort sitzen?
Erdbeeren mit Schlagsahne. Das waren Sams einzige Sorgen. Er konnte es ihm nicht übel nehmen. Warum auch nicht? Warum sich nicht an diesen kleinen Dingen freuen? Er brauchte sich nur erinnern an die Zeit, in der er den Ring getragen hatte, und Erdbeeren mit Schlagsahne schienen die süßeste Verzückung auf Erden zu sein.
Earenya war der einzige Tag, an dem ihn keine Verzückung mehr erreihen konnte. Earenya war der Tag, an dem er wartete.

Wird forgesetzt...

Zurück zu den Angaben| Weiter zu Kapitel 2