Titel: Die Feder
Autor: Catreena
Kategorie: Nachdenkliches, One-Shot, Abschied
Rating: ohne Altersfreigabe
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Inhalt: Seit vier ein halb Jahren führt mich mein Arbeitsweg an einem privaten Flugplatz vorbei,
und (fast) jeden Tag, sommers wie winters, sitzt dort auf dem Zahn ein Falke. Er ist mir
inzwischen so vertraut, dass ich ihn bereits in Gedanken mit "Guten Morgen, mein Freund"
oder "Gute Nacht, mein Freund" begrüße. Gleichzeitig fürchte ich mich davor, dass er
irgendwann nicht mehr da sitzt, denn ich weiß, dann wird er mir fehlen. Heute morgen saß er
nicht da und seitdem gehen mir die folgenden Gedanken nicht mehr aus Kopf.
Die Feder
Da sitzt du, den Kopf leicht zur Seite geneigt, beobachtest, was um dich herum geschieht, ohne eine Bewegung, ohne eine Regung, majestätisch und stolz. Nur deine Augen wandern umher, fixieren einen Punkt und suchen dann weiter, rastlos und ohne Ziel. Nur wenige Augenblicke, in denen wir einander nahe sind, in denen sich unsere Blicke begegnen, wie ein Windhauch, der über die Haut streicht und dann verschwindet.
Weit war der Weg, lange würde er unterwegs sein. Würdevoll breitete der Falke seine Flügel aus, stieß sich ruhig von dem Zaunpfahl ab, auf dem er Stunde um Stunde ausgeharrt hatte, und glitt durch die Luft in die Morgendämmerung hinein. Er drehte eine Runde, dann noch eine und noch eine, stieg dabei immer höher, bis er in der Ferne die noch von dunklen Wolken umkränzten Berge erkennen konnte. Einen Moment lang schien er in der Luft still zu stehen, gerade so, als überlegte er, ob er sich wirklich auf den weiten Weg machen sollte. Dann schoss er vorwärts, auf die Berge zu. Eine Feder trudelte langsam zur Erde herunter, landete nahe dem Pfahl, auf dem der Falke bis eben noch geruht hatte, im Gras.
Als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, begann er zu spüren, dass die Jahre des Wartens nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Noch immer waren die Gipfel der Berge nicht zu erkennen, als er sich auf dem First eines Daches niederließ. Stundenlang blieb er dort sitzen, nahezu regungslos, wie zuvor auf dem Zaun. Nur einige Male, wenn er etwas erspäht hatte, stieß er sich von den Ziegeln ab, tat einige Flügelschläge und stürzte dann pfeilschnell zu Boden, um schon kurz darauf mit einer Maus im Schnabel wieder auf dem Dach zu landen. Es war Nacht, als er seinen Weg schließlich fortsetzte.
Einer neuer Morgen brach an, und noch immer war der Falke den Bergen nicht näher gekommen. Nicht weit hatte ihn der Weg getragen, viel zu schnell hatten ihn seine Kräfte wieder verlassen. Nun ruhte er erneut, saß auf einem Baum am Rande eines Waldes. Sorgsam strich er mit dem Schnabel sein Gefieder glatt, als wollte er verbergen, dass es nicht mehr die wunderschöne, braune Färbung hatte, die ihn einst so würdevoll erscheinen lassen hatte. Schließlich hefteten sich seine Augen an die im Nebel liegenden Gipfel der Berge. Noch so weit der Weg und so schwer die Flügel. Ein kalter Wind kam auf und mit ihm die Angst, dass das Ziel vielleicht zu weit entfernt liegen könnte.
Als der Wind zunahm, erhob sich der Falke wieder in die Luft. Auf den unsichtbaren Wellen, die die Windböen in die Luft zeichneten, ließ er sich tragen, die Flügel weit ausgebreitet, den Blick auf die Berge vor ihm gerichtet. Mit rhythmischen Bewegungen stieg er höher und höher, die Gipfel zeichneten sich klar vor ihm ab, groß und mächtig luden sie ihn ein. Er würde es schaffen, er würde sein Ziel erreichen, mit letzter Kraft, wenn es sein musste, aber er würde es schaffen.
Unvermittelt rissen die Windböen ab und der Falke stürzte, einem Stein gleich, in die Tiefe. Erschrocken riss er den Schnabel auf, stieß einen schrillen Schrei aus, dann schlug er seine Flügel auf und nieder und es gelang ihm, den Sturz noch im letzten Moment abzufangen. Geschmeidig landete er auf einer Wiese, hüpfte einige Male auf und ab, um sich zu vergewissern, dass er unverletzt geblieben war. Müde erhob er sich wieder in die Luft, jedoch nur, um sich auf einem höhergelegenen Strommasten erneut niederzulassen. Und dort blieb er sitzen.
Die Berge waren zum Greifen nahe. Er fühlte die Kälte des Schnees, die der Wind mit sich brachte, hörte die Rufe der Bergvögel und das Rauschen des Bergbaches. Doch er fand nicht die Kraft, sich zu erheben und den letzten Rest des Weges hinter sich zu bringen. Einige Male stieß er in die Luft hinauf, doch nur, um eine Maus oder einen Hasen zu erlegen, dann landete er wieder auf dem Masten. Zwei Tage harrte er dort aus, er, der einst so stolz und ungebrochen gethront hatte auf dem Zaunpfahl, musste nun warten, dass die Kräfte vergangener Tage zu ihm zurückkehrten.
Es glich einem Aufbäumen, als der Falke sich schließlich wieder in die Luft erhob. Seine Flügelschläge waren langsam und zäh, doch sie brachten ihn voran. Er achtete nicht mehr auf das, was sich unter ihm befand, bemerkte nicht, wie das Land an ihm vorbei zog. Sein Blick war stur auf die graue Steinwand gerichtet, die sich vor ihm aufbaute. In ihrem Schutz stieg er hoch in die Luft, immer dicht am Fels entlang, die den Wind brach und ihn nahezu schwerelos gleiten ließ. Die Sonne kam über den Gipfel und traf auf seine Augen. Geblendet von dem Licht stieß er sich empor, bis er über den Gipfel hinaus schoss. Er senkte seine Flügel und kreiste über dem Berg, damit alle Welt sah, dass er es geschafft hatte. Er, der König der Lüfte, der stolze Falke, war am Ziel angekommen.
Als seine Krallen den Stein am Gipfel berührten, senkte sich die Müdigkeit wie ein bleiernes Gefieder über ihn. Noch einmal strich er seine Federn glatt, dann richtete er sich auf, ließ seinen Blick ringsumher gleiten, reckte den Hals und stieß einen letzten Schrei aus. Dann schloss er die Augen. Er hatte es geschafft.
Ich bin auf dem Heinweg und du bist nicht da. Es sticht im Herzen, als ich den leeren Platz auf dem Zaun sehe. Wo du jetzt wohl bist? Ob es dir gut geht? Ich nähere mich dem Zaunpfahl, vorsichtig, respektvoll, so, als wärst du immer noch da. Nie wäre ich dir zu nahe gekommen, mein Freund, doch nun, da du nicht mehr da bist, wünschte ich, ich hätte mehr Zeit gehabt. Nie war ich dir näher als in diesem Augenblick. Mir ist, als hörte ich den Schrei eines Falken. Du? Ich lasse meine Hand über das Holz des Zauns streichen, stelle mir vor, wie sich dein Gefieder wohl angefühlt hätte. Dann sehe ich sie. Ich hebe sie auf, nehme sie mit. Sie ist das Letzte, was mir von dir bleibt. Die Feder.
Ende
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