Titel: Das Licht der Erde

Autor: Lily
Kategorie: Nachdenkliches
Rating: ab 6
Anmerkungen: Meine Weihnachtsgeschichte 2005
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Inhalt: Von Kabelbränden und einem Geschenk des Himmels.

Das Licht der Erde

Stirnrunzelnd starrte Lucy den Baum an. Er stand in einer Ecke des Wohnzimmers, verdeckte die Terrassentür sowie den Schrank mit den Vasen und den etwas weniger jugendfreien Getränken, auf deren Besitz der Vater, trotz erheblichen und nicht abebbenden Protests der Mutter, immer noch bestand. Lucy störte es wenig; die meisten von ihnen hatte sie bereits ausprobiert und festgestellt, dass sie ihrem Vater zur Abwechslung einmal dankbar war für seine Hartnäckigkeit im ständig schwelenden Streit mit der Mutter. Der Baum, eine perfekt gewachsene und in der Höhe auf den Zentimeter genau passende Nordmanntanne, war bereits fertig geschmückt: Die weiße Lichterkette, mit Satinschleifen verziert; mit künstlichem Schnee bepuderte, gläserne Christbaumkugeln und allerlei Glitzerzeug, sowie silbernes Lametta und Schnee aus der Spraydose in rauen Massen - Lucy vermutete, dass die Mutter, wenn das Wetter ihnen schon keine Weiße Weihnacht bescheren wollte, sich selbige einfach ins Haus holen wollte. Vom Grün der Tannenzweige war nur noch wenig zu sehen und Lucys Mutter war absolut begeistert. Der Baum war perfekt.
Lucys Stirnrunzeln vertiefte sich.

"Die Lichterkette ist kaputt!", rief sie über die Schulter in die Küche, aus der es nach Zimtsternen duftete, und stöpselte den Stecker zur Vorsicht noch mehrmals aus und wieder ein. Sekunden später stand die Mutter hinter ihr, wischte sich die mehligen Hände an einem arg mitgenommenen Küchentuch ab und zog ebenfalls die Stirn kraus.

"Unmöglich, die Kette ist nagelneu - lass mich mal", sagte sie und drängelte Lucy von der Steckdose weg. Lucy beachtete sie nicht weiter.
"Papa!", rief sie die dunkle Kellertreppe hinunter und bekam ein Grummeln zur Antwort. "Komm mal bitte, die Lichterkette will nicht!"
"Vielleicht ist eine Birne kaputt...", murmelte die Mutter in dem Tonfall einer Person, die sich an eine Hoffnung klammert, von der sie sehr genau weiß, dass sie nicht existiert.

"Keine Chance, die sind parallel geschaltet, müsste trotzdem funktionieren!", meldete sich Leon aus der Küche und plünderte, den Geräuschen nach zu urteilen, das Blech mit den frisch gebackenen Plätzchen.
"Lass mal sehen..." meinte der Vater. -

"Ich glaube es einfach nicht!", zischte Lucy und drehte den Schal in ihren Händen, während sie sich wohl vorstellte, es sei der Hals des Autofahrers vor ihnen. Leon antwortete nicht und schaltete herunter.
"In diesem Tempo sind wir ja in Jahren noch nicht in der Stadt!", beschwerte sie sich weiter und hielt sich am Türgriff fest, als Leon vorsichtig abbog und beinahe von der Straße rutschte. Er warf ihr einen hastigen Blick zu, fuhr - schlich - aber wortlos weiter. Lucy hatte das Gefühl, dass er gerade nach Worten suchte, um ihr möglichst taktvoll klar zu machen, dass sie gefälligst die Klappte halten solle.

"Oder die Geschäfte haben bereits geschlossen, wenn wir ankommen", fügte sie hinzu und zuckte unwillkürlich zusammen, als ein ihnen entgegenkommendes Fahrzeug auf ihre Spur herüberschlitterte, um dort stehen zu bleiben.
"Falls wir ankommen", murmelte Leon und ließ den Wagen ausrollen, so dass er einige Meter von dem Anderen entfernt zum Stehen kam. -

"Was habe ich dir gesagt? Ich habe es gewusst!", ereiferte Lucy sich und schüttelte Hagelkörner aus ihren Haaren. Leon seufzte.
"Da seid ihr ja endlich!", ließ die Mutter vernehmen und stürmte in den Hausflur.
"Ja, aber ohne eine neue Lichterkette." Leon hängte seinen Mantel auf und verdrehte in einer Vorahnung bereits innerlich die Augen.
"Was?"

"Wenn Leon nicht wie ein alter Mann mit Krückstock gefahren wäre, wären wir vielleicht angekommen, bevor die Geschäfte zu hatten", grummelte Lucy und verschwand vorsichtshalber rasch im Wohnzimmer. Leon verkniff sich eine Antwort und schüttelte nur den Kopf, während er ihr langsamer folgte. Die Mutter starrte den beiden nach, ehe die Erkenntnis dessen, was die Rückkehr der Kinder ohne neue Lichterkette bedeutete, langsam in ihren Verstand sickerte.

"Mal sehen..." Der Vater holte, nachdem die Kinder von ihrer unfreiwilligen Schlittenfahrt berichtet hatten, seinen Werkzeugkoffer aus dem Keller und nahm an der kaputten Kette einige Veränderungen vor, von denen Lucy hoffte, dass sie die kleinen Kerzen zum Brennen bringen würden, und von denen Leon wusste, dass es besser wäre, sie nicht auszuprobieren. -

Schweigend standen die Mutter, der Vater, Lucy und Leon um den Baum herum. Der penetrante, wenngleich auch ätherische Geruch verbrannter Nadeln hing in der Luft. Außerdem war es dunkel.

"Das ist das furchtbarste Weihnachten, das ich jemals erlebt habe", beschwerte sich Lucy schließlich und warf dem Stapel Geschenke auf der Couch einen Blick zu, wo sie vor dem schwelenden Baum in Sicherheit gebracht worden waren. Im Licht einiger Kerzen schimmerten Goldpapier und Silberband. Leon sagte nichts, aber aus einem unerklärlichen Grund lächelte er leicht und begann, den Baum abzuschmücken, die angesengten Bänder und Kugeln von den Übrigen trennend. Der Rest der Familie setzte sich wortlos auf die Couch und tat sich zur allgemeinen Beruhigung arg strapazierter Nerven an Vaters verbotenen Vorräten gütlich. Es dauerte nicht lange, bis der Baum entschmückt und auf die Terrasse gebracht worden war.

"Leon, was machst du denn so lange da draußen, es ist eiskalt!", rief Lucy durch die geschlossene Terrassentür und zündete einige weitere Kerzen an, die die Mutter im Keller gefunden hatte, während der Vater versuchte, den Strom wieder zum Fließen zu bewegen.
"Schon fertig."

Lucy starrte ihn an. "Was soll denn das?", fragte sie erstaunt.
Leon zuckte nur mit den Schultern und schnappte sich einige der Kerzen. Die Mutter und Lucy sahen mit stetig größer werdenden Augen zu, wie er etwas Draht aus der Hosentasche zog und die Kerzen damit sicher an der vom Kabelbrand unversehrten, schneesprayfreien Spitze der Tanne zu befestigen. Der Vater kratzte sich nachdenklich am Kopf, als er aus dem Keller zurückkehrte und Leon dabei beobachten konnte, wie er Lebkuchen und Apfelringe auf Schnüre fädelte. -

Lucy schnurrte wie eine junge Katze, kuschelte sich enger in ihre Decke und an Leon heran, um auch einen Blick auf das Buch erhaschen zu können, das er las. Auf dem Sideboard stapelten sich Goldpapier und Silberband, auf dem Tisch träumte der Weihnachtsbaum still vor sich hin. Mutter und Vater saßen auf der Couch und blätterten gut gelaunt in alten Photoalben. Kerzenschein erhellte das Wohnzimmer.
Lucy gähnte und stutzte.

"Lucy! Was soll denn das?", beschwerte der Vater sich, als das Zimmer in Schwärze versank und der Rauch erloschener Kerzen in den Augen zu brennen begann. Leon ließ das Buch sinken.
Die Tränen versiegten, die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und das Wohnzimmer wurde von grau-silbrigem Licht geflutet. Lucy drückte ihre Nase an die Fensterscheibe und betrachtete die immer heller leuchtende Erde.
"Es schneit."
Leon lächelte.

Ende

(c) 2005 by Lily

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